Sie könnten jetzt natürlich auf die Idee kommen zu sagen, der Autor wiederhole sich, worauf Ihnen aber der Autor vorwerfen würde, dass es Ihnen an einer positiven Einschätzung der Demokratie mangelt. Wenn Dante sich ständig wiederholen darf und uns tausendmal von irgendwelchen Lichtern, nie gehörter Musik und tiefsinnigsten Gedanken erzählt, so tiefsinnig, dass sich der Sinn nur im Paradies erschließt, dann darf sich auch der Autor wiederholen. Positiv ist, dass nicht irgendjemand auf die Idee gekommen ist, die 4 zur magischen Zahl zu machen, also die Trinität zur Quartität macht, also noch Maria dazu nimmt (im Namen des Vaters, des Sohnes, der Mutter und des heiligen Geistes. Amen). Dann wäre vier eine magische Zahl und wir hätten 44 göttliche Gesänge. Wir fragen uns ja jetzt schon, wie Dante es schaffen will, bis zum 33 Gesang nicht zum Glühwürmchen zu mutieren, aber bei 44 Gesängen wird aus dem Glühwürmchen ein ausgewachsener Glühwurm. Wer immer schon vermutet hat, dass Dante irgendwann zum fertigen Taliban mutiert, mit allem Pipapuf (Frauen an die Spindel, Sex nur zur Vermehrung, Wirtschaft auf Subsistenzniveau, Kampf aller Andersgläubigen etc.) der findet seine Vermutung jetzt bestätigt. Wer jetzt sagt, so könne man das nicht sehen, man müsse Dante aus seiner Zeit heraus begreifen, der findet nicht die Zustimmung des Autors. Begreifen kann der Autor auch die Taliban, aber einen an der Waffel haben sie trotzdem. Die Tragik des Christentums besteht wohl darin, dass es alles Glück ins Jenseits verlagert, dort aber nur, nimmt man Dante als eine herausragende Beschreibung desselben, ein himmlisch / göttliches Megaloch zu finden ist. Das Christentum definiert sich also ausschließlich negativ. Das Diesseits ist ein Jammertal und das Jenseits ein lichtdurchflutetes Megaloch, in dem ständig irgendwelche Musik vor sich hin dödelt. Nicht dass der Autor das Gedudel im Radio besser finden würde, aber es ist durchaus unklar, ob dieses Gedudel besser ist. In die seelische Giftküche einer dantesken Talibanseele hinabzusteigen, ist schwierig. Das Gift wird wohl zusammengerührt aus extremer Hoffnungslosigkeit und völliger Überforderung, die Welt zu durchschauen. Unter diesen Auspizien kann allein das Jenseits Trost bieten, auch wenn dieses im Grunde nur dadurch charakterisiert ist, dass es das als Jammertal empfundene Diesseits negiert ohne irgendeinen konkreten Wärmestrom auszustrahlen. An der Komplexität der Welt scheitern wohl viele, es wäre aber Aufgabe des Bildungssystems, diese Welt transparent zu machen und als steuerbar darzustellen. Dabei wäre es sinnvoll, das Bildungssystem vom Müll zu befreien, dafür aber Volkswirtschaftslehre einzuführen. Des weiteren wäre John Lock, Montesquieu, Rousseau, Hobbes etc. die da immer mal wieder durch die Lehrpläne geistern, durch Werke zu ersetzen, die fundamental sind für das Verständnis einer freiheitlich demokratischen Grundordnung, z.B. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Beklagt wird oft die Irrelevanz der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften. Da ist sich der Autor gar nicht so sicher, ob die tatsächlich irrelevant sind. Desillusionierte und desorientierte Minidantes sind eine tickende Zeitbombe, die bei jeder Krise hochgehen kann. Geisteswissenschaften können auch zeigen, auch Sprachen, dass die Welt bunt ist und dass die Welt rund ist und es überall Menschen gibt, die kreativ sind und irgendwelche verrückten und lustigen Dinge anstellen und je mehr es davon gibt, desto lustiger wird das. Gibt es viele davon, dann ist jede Krise ein lustiges Plantschen im Wasserglas. Geisteswissenschaften öffnen den utopischen Horizont. Dafür brauchen wir aber Profis und keine Briefmarkensammler und nicht jeder verbeamtete Lehrer in der sechsten Generation gehört an die Schule und keiner davon sollte Professorchen spielen an einer Uni.

Hilfreiche Lust, darin die echte Liebe
Ihr wahres Antlitz gütig pflegt zu zeigen,
Wie die Begier verrät die schlechte Liebe,

Gebot dem Klang der süßen Lyra Schweigen
Und Halt dem Schwirren ihrer heilgen Saiten,
Die Himmelshand nachlässt und spannt zum Reigen.

Sagen will er uns, dass es eine echte Liebe gibt, die ist irgendwie vertikal und geht in letzter Konsequenz direkt zu Gott und eine horizontale, die geht, das ist geographisch einleuchtend, nie zu Gott. Letztere ist dann Begier. Die wahre Liebe also, die vertikale, die gebot nun dem Singsang zu schweigen, warum auch immer. Aus irgendeinem Grund hat da Gott höchstpersönlich das Radio ausgeknipst (la destra del cielo).

Wie sollten taub sein jene Wesenheiten
Gerechtem Wunsch, die jetzt einmütig schwiegen,
Um selbst zur Bitte Mut mir zu bereiten?

Im Original

Come saranno a' giusti preghi sorde
quelle sustanze che, per darmi voglia
ch'io le pregassi, a tacer fur concorde?

Wie könnte es sein, dass diese Wesen,
die doch schweigen, um mich zu ermutigen
sich taub stellen, meiner angemessenen Bitte

Die Wesen hörten also auf zu singen und ihr Verstummen schätzt Dante so ein, dass sie ihn damit einladen wollten, seine Bitte vorzubringen. Was er genau bitten will, erfahren wir noch nicht.

Endloser Klage muss mit Recht erliegen,
Wer dieser heilgen Liebe sich entzieht
Dingen zulieb, die mit der Zeit verfliegen.

Im Original

Bene è che sanza termine si doglia
chi, per amor di cosa che non duri,
etternalmente quello amor si spoglia

Gut ist dass ohne Ende derjenige leidet,
der, aus Liebe zu etwas, das nur von kurzer Dauer,
sich für immer jener Liebe beraubt

Das Problem ist das alte. Von dieser Liebe zu den ewigen Dinge erfahren wir nur, dass sie vertikal ist, nicht aber, in was sie konkret besteht. Die Liebe zu etwas aus dem irdischen Jammertal ist natürlich nur Schall und Rauch. Ausgesprochen dünn ist aber die Verbindung zur ersten Terzine, mit dem verstummenden Gelichter. Ist der verstummende Gesang die Liebe, die nur an Vergänglichem haftet, muss also verstummen, wenn es um die Liebe geht, die auf das Ewige gerichtet ist und um die es sich bei seiner bislang noch nicht bekannten Bitte dreht? Isoliert betrachtet, könnte man versuchen, in diese Terzine irgendwie Sinn hineinzubringen. Die Bandbreite reicht dann von trivialer Alltagserfahrung (manchmal muss man halt Prämissen setzen) bis zu tiefschürfenderen psychologischen Bemerkungen (Leuten, denen der Kompass fehlt, laufen langfristig in die Irre). Das Problem dabei ist, dass man die Divina Commedia damit überstrapazieren würde. Außer der Scholastik in Terzinenform kann Dante nichts leisten, insbesondere kann er nicht aus den Tiefen seines Gemütes schöpfen, denn da ist auch nur Scholastik, Ptolemäus, die griechische Mythologie und ein Haufen angelesenes, halbverdautes Geschichtswissen, das weitgehend unsystematisch und ohne kritische Reflektion darauf wartet, zu Terzinen verarbeitet zu werden. Wir sehen also davon ab, die Terzine weiter zu kommentieren.

Wie man es oft glutstreifig zucken sieht
Durch heiterstille Nacht mit Blitzesschnelle,
Was dann dem überraschten Blick entflieht,

Als hätte dort ein Stern vertauscht die Stelle,
Nur dass kein andrer steht, wo erst er brannte,
und blitzesschnell er selbst verliert die Helle -

So, wo des Kreuzes rechter Arm sich spannte,
Von da zum Kreuzesfuß ein Lichtstrahl fuhr
Aus jenem Sternbild, das dort Glanz entsandte;

Doch das Juwel entfiel nicht seiner Schnur:
Am Querholz zog dahin das Lichtgebilde
Gedämpft, wie hinter Milchglas, seine Spur

Im Original

Quale per li seren tranquilli e puri
discorre ad ora ad or sùbito foco,
movendo li occhi che stavan sicuri,

e pare stella che tramuti loco,
se non che da la parte ond'e' s'accende
nulla sen perde, ed esso dura poco:

tale dal corno che 'n destro si stende
a piè di quella croce corse un astro
de la costellazion che lì resplende;

né si partì la gemma dal suo nastro,
ma per la lista radial trascorse,
che parve foco dietro ad alabastro.

Wie man im ruhigen und klaren Sternenzelt
ein aufflammendes Leuchten sieht, von einem Ort zum anderen rasend,
die Augen, die bis jetzt ruhig, hinterher rasen,

ganz wie ein Stern der scheinbar versetzt an anderen Ort,
wenn es nicht so wäre, dass da wo er sich entzündet,
nichts verloren geht, und wenn nicht alles wär von kurzer Dauer

ganz so raste vom Arm der nach rechts hin zeigt
zum Fuße jenes Kreuzes ein Stern
des Sternbilds, das dort prangte
es blieb der Sternjuwel an seinem Bande haften,
und glitt über den Längsbalken, der Feuer schien, auf Alabaster

Das Bild ist natürlich so verquast formuliert, dass es nicht suggestiv ist. Ein Bild kann nur dann suggestiv sein, wenn es unmittelbar einleuchtet. Suggestiv ist zum Beispiel sowas.

Wie vom Blitz getroffen sank er zu Boden

Die Bilder Dantes sind aber so abartig, dass sie weder suggestiv sind noch vor dem geistigen Auge des Lesers ein klares Bild entstehen lassen. Hier soll ein Licht entlang eines Kreuzes nach unten rasen, startend vom rechten Arm des Kreuzes (Wobei man aber gar nicht weiß, wieso es nach unten rast, denn wir erfahren später, dass es sich auf dem horizontalen Balken bewegt. Solange es sich auf dem horizontalen Balken bewegt, kann man nicht entscheiden, ob es aufwärts oder abwärts weiterzischt). Dieses dahinrasende Licht wird mit einer Sternschnuppe verglichen, das ist schon reichlich dahergeholt. Völlig wirr wird es aber dann, wenn Dante uns erzählt, dass wir die Sternschnuppe zuerst als Stern interpretieren, der sich bewegt, dann aber feststellen, dass an dem Ort, von dem er sich wegbewegt hat, kein Stern fehlt. Schließlich wird auch noch erwähnt, dass die Augen dieser Sternschnuppe folgen, was auch Blödsinn ist, die Teile sind so weit weg, dass man ihnen folgen kann, ohne dass die Augen sich bewegen. Zu guter Letzt teilt er uns noch mit, dass die Flamme an ihrem Balken hängenbleibt, wie der Schmuck auf einem Stück Stoff (gemma dal suo nastro) und dass er glänzt wie Feuer auf Alabaster. Würde man kongenial die lyrischen Fähigkeiten Dantes beschreiben, käme so was heraus:

Gleich wie ein Apfel, in dessen Innern
sich der Keim schon findet zu jener Frucht
die einst ward verderblich jener Frau

So ruht, von jenem Wurm noch unbenagt,
der hätte er genagt uns aller Vater
nicht hätte folgen lassen jener Frau

die Worte friedlich in seiner Brust
und seine Phantasie, ebenfalls auch unbenagt,
entströmt, fallen sie wie jener eins herunter

ein Wurzelwerk, dass sich vom Himmel labt
mit Stengel in der Luft wedelnd
wie jene Pflanze, die nicht richtig eingetopft

Sie werden es kaum glauben, aber das ist sogar ein suggestives Bild, wenn nicht der Autor - vielleicht unterlag Dante auch diesem Phänomen - der Autosuggestion erliegt. Der Autor hatte mal in ziemlich luftiger Höhe seines Bücherregals eine Pflanze stehen und die hatte Luftwurzeln. Ich glaube, normalerweise stoßen die mal auf Wasser und hören dann auf zu wachsen. Da aber kein Wasser kam, wurden die immer länger, das hat den Autor so traurig gestimmt, dass er schlussendlich einen Suppenteller mit Wasser dahingestellt hat. Zu Dante würde einem ja noch ein anderes suggestives Bild einfallen. Der Autor hat auch Pflanzen (also genau genommen seine Freundin, für den Autor ist Grünzeug, das man nicht essen kann, irrelevant) die biegen sich verzweifelt zum Licht, haben einen ganz dünnen Stamm und kaum Blätter. Das passt ganz gut zu Dante. Wer nur noch gen Himmel strebt, der verdorrt an Leib und Leben. Also so irgendwie ließen sich suggestive Bilder zusammenbasteln. Aber Dante mit seinen Lichtern: die wie Sternschnuppen, die wiederum Sterne sind, die niemand vermisst, an einem Querbalken nach unten rutschen und dabei leuchten wie Feuer vor Alabaster, das ist schon ziemlich abartig.

Und sprach zu mir, wie einst Anchises milde -
Wenn Wahrheit aus der Muse Mund geflossen –
Zum Sohn sprach in Elyseums Gefilde:

Im Original

Sì pia l'ombra d'Anchise si porse,
se fede merta nostra maggior musa,
quando in Eliso del figlio s'accorse

So fromm kam einst der Schatten des Anchises,
wenn unsere höchste Muse die Wahrheit sagt,
als er im Elyseum seinen Sohn erkannte

Anchises ist der Vater des Aeneas, zu ihm entbrannte Aphrodite in heftiger Liebe, mit freundlicher Unterstützung des Zeus. Aus dieser Verbindung ging dann Aeneas hervor. Das Licht, das jetzt wie eine Sternschnuppe das Lichtkreuz runterflitzt ist sein Urahn Cacciaguida. Wie also Aeneas im Jenseits seinem Vater Anchise begegnet, so begegnet Dante seinem Urahn Cacciaguida. Das „wenn unsere höchste Muse die Wahrheit sagt“ ist jetzt natürlich drollig. Die Aeneis ist reine Dichtung, von der ersten bis zur letzten Zeile; anzunehmen ist, dass schon Vergil klar war, dass Aeneas, so er überhaupt einen historischen Kern hat (immerhin ist ja der historische Kern des Kampfes um Troja schon umstritten) nicht in den Hades hinabgestiegen ist. Wenn also Dante annimmt, dass Vergil die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit erzählt, Wahrheit im Sinne von historischen Fakten, dann ist ihm nicht klar, dass es sich schon bei der Aeneas um Dichtung handelt. Man könnte, würde es sich bei Dante um einen Dichter handeln, die Verse so interpretieren, dass Dichtung wahrer sein kann als ein schlichter Aussagesatz. Diese Sichtweise müsste allerdings suggestiv vorgetragen werden. Über diesen Cacciaguida erfahren wir in den nun folgenden Terzinen mehr.

„O du mein Blut, drauf sich so rein ergossen
Die Gnade Gottes! Wem wird doch gleich dir
Des Himmels Pforte zweimal aufgeschlossen?“

Die Orginalterzine ist aus einem Misch aus Latein und Italienisch, so halbwegs kommt das aber hin. Sagen will er wohl, dass für Dante die Pforten zum Paradies zweimal geöffnet wurden, einmal mit Rückfahrticket und das andere mal ohne.

So sprach die Glut. Ich blickte hin zu ihr
Und dann zurück in Beatricens Mienen -
Und mich ergriff Erstaunen dort wie hier:

Ein Lächeln war voll Glanz entflammt in ihnen,
Dass mir aus ihren Augen aufzugehen
Des wahren Paradieses Freuden schienen.

Das ist jetzt eine Lichtvariation. Die anderen leuchten weitgehend körperlos, Beatrice aber hat es geschafft, mitsamt Körper ins Paradies zu kommen und da strahlen ihre Augen immer heller, je weiter sie nach oben steigt. Die Wirkung ihrer strahlenden Augen ist irgendwie ähnlich wie bei den anderen Glanzlichtern, aber wie genau erfahren wir leider nicht.

Lieblich zu hören, wunderhold zu sehen,
Sprach jetzt der edle Geist von seltnen Dingen,
Doch konnt ich ihren Tiefsinn nicht verstehen.

Der ist gut, das müssen wir uns im Original anschauen.

Indi, a udire e a veder giocondo,
giunse lo spirto al suo principio cose,
ch'io non lo 'ntesi, sì parlò profondo;

Dann, sowohl zu hören wie zu sehen eine Freude,
fügte der Geist noch an zu dem bereits Gesagten,
Dinge von solcher Tiefe, dass ich sie nicht verstand

Wir gehen zunehmend davon aus, dass Dante ahnte, dass es über das himmlisch / göttliche Megaloch nicht viel zu berichten gibt. Während Dante aber suggerieren will, dass sich in diesem Megaloch irgend etwas befindet, über das aus verschiedenen Gründen nicht berichtet werden kann, gehen wir davon aus, dass da schlicht nichts ist und es folglich auch nichts zu berichten gibt. Er erzählt uns immer wieder, woran sein Bericht scheitert: Die Musen, die ihm nicht beistehen, die Erinnerung, die erlischt, der Leser, der zu blöd ist etc. etc. Hier gibt er jetzt zu, dass er selber nicht versteht, was ihm vom himmlisch / göttlichen Megaloch berichtet wird. Der Nachweis, dass sich dort was befindet, wird nie erbracht. Wir erfahren nur, dass dort ein mächtiges Leuchten sein soll und eine nie gehörte Musik. Die Aussagen sind aber so vage, dass wir sagen würden, dass Dante keine Ahnung hat, von was er da berichtet. Aber abgesehen davon stellt sich natürlich die Frage, was wir mit der Information, dass dort Dinge von solcher Tiefe erzählt werden, dass er sie selber nicht verstanden hat, eigentlich anfangen sollen. Er will uns damit suggerieren, dass dort Dinge von unglaublichem Tiefsinn erzählt werden. Die Vorgehensweise ist in etwa die Gleiche, wie die rhetorischen Faxen, die die Leute verwenden, die die Plausibilität ihrer Aussagen durch einen Hinweis auf ihre Erfahrung, Ausbildung etc. zu untermauern suchen.

Nicht Absicht war es, dass sie mir entgingen,
Natürlich war‘ s: Denn über alle Schranken
Menschlicher Fassung trugen ihn die Schwingen.

Dante hat sich ja ein paar Geträller weiter vorne schon mal mit Erkenntnistheorie beschäftigt, wir verwiesen dort schon auf Popper, Logik der Forschung. Dort kann man nachlesen, welche Immunisierungsstrategien es gibt. Immunisierungsstrategien nennt Popper alle systematischen Versuche, eine Aussage so zu formulieren, dass sie nicht falsifiziert werden kann, dass heißt eine Aussage so zu formulieren, dass sie empirisch nicht nachgeprüft werden kann. Der Unterschied zwischen verifizieren und falsifizieren ist hierbei gewaltig. Um eine Aussage zu verifizieren, braucht es lediglich ein Beispiel, auf welche die Aussage zutrifft. Um eine Aussage zu falsifizieren, bedarf es lediglich eines Beispiels, auf welche die Aussage nicht zutrifft. Die allerkrasseste Immunisierungsstrategie haben wir aber in der Aussage oben. Es wird schlicht davon ausgegangen, dass sich bestimmte Aussagen eben der menschlichen Fassungskraft entziehen. Damit entziehen sie sich von vorneherein jedem Versuch, sie zu falsifizieren. Dass die mittelalterliche Theologie wie auch zeitgenössische Päpste diesem Hokuspokus Vorschub leisten, Wissen an den Glauben binden wollen, veranschaulicht auch die Schrift Fides et Ratio
(Glaube und Vernunft von Johannes Paul II) http://www.stjosef.at/dokumente/fides_et_ratio.htm.
Diese richtet sich an die Bischöfe der katholischen Kirche über das Verhältnis von Glaube und Vernunft und was man da liest, ist teilweise schon erschreckend. Wir lesen dort:
„Daraus entstanden verschiedene Formen von Agnostizismus und Relativismus, die schließlich zur Folge hatten, daß sich das philosophische Suchen im Fließsand eines allgemeinen Skeptizismus verlor. In jüngster Zeit haben dann verschiedene Lehren Bedeutung erlangt, die sogar jene Wahrheiten zu entwerten trachten, die erreicht zu haben für den Menschen eine Gewißheit war. Die legitime Pluralität von Denkpositionen ist einem indifferenten Pluralismus gewichen, der auf der Annahme fußt, alle Denkpositionen seien gleichwertig: Das ist eines der verbreitetsten Symptome für das Mißtrauen gegenüber der Wahrheit, das man in der heutigen Welt feststellen kann.“

Was sich hier offenbart, ist ein krude Halbbildung und eine geistige Verwirrtheit. Die legitime Pluralität von Denkpositionen wird gegenüber dem indifferenten Pluralismus nicht abgegrenzt. Sagen will er eigentlich Folgendes. Es gibt eine Wahrheit, nämlich seine eigene und an die soll man weitgehend glauben. Aus rein praktischer Sicht sieht es schlicht so aus. Die Menschheit hatte noch nie Probleme mit Leuten, die Fragen stellten, das ist ein weitgehend unkritischer Vorgang. Es gibt aber immer wieder heftige Probleme mit Leuten, die im Besitz der Wahrheit sind. Der Relativismus oder Skeptizismus, so er denn überhaupt in der heutigen Philosophie oder im Bewußtsein der Menschen vorherrscht, muss sich nicht rechtfertigen, denn er ist moralisch vollkommen unbedenklich. Im Übrigen sind pauschale Aussagen über „die Philosophie“ so hirnverbrannt, dass man sich Gedanken machen muss über das Bildungsniveau der Bischöfe. Wenn der Papst davon ausgeht ( anzunehmen, dass er einen Teil von Ihnen persönlich kennt), dass diese mit pauschalierten Aussagen über die Philosophie (also Kant, Hegel, Fichte, Nietzsche, Schopenhauer, Russell, Popper, Adorno, Horkheimer, Bloch, Marcuse etc. etc.etc.) irgendetwas anfangen können, dann wird hiermit entweder eine Aussage gemacht über den Bildungsstand dieses Papstes oder der Bischöfe und schlimmstenfalls über beide. Weiter unten:

„Ich will sie teilhaben lassen an einigen Überlegungen hinsichtlich des Weges, der zur wahren Weisheit führt, damit jeder, der die Liebe zu ihr im Herzen trägt, den richtigen Weg einzuschlagen vermag, um sie zu erreichen und in ihr Ruhe in seiner Mühsal sowie geistige Freude zu finden.“

Wer andere dazu einlädt, ihm auf dem Weg zur wahren Weisheit zu folgen, geht offensichtlich davon aus, dass er im Besitz derselben ist. Wer sich aber bis jetzt gefragt hat, wie so ein dantesker Hokuspokus zu einem Werk der Weltliteratur mutieren konnte, der findet wohl einen Teil des Rätsels in der Tatsache, dass Dante diesen christlichen Hokuspokus beschreibt und weite Teile der Menschheit bis auf den heutigen Tag an diesen Hokuspokus glauben. In dieser Schrift des Papstes finden wir doch tatsächlich Sätze en masse, die klingen wie Dante Originalsound.

„Das I. Vatikanische Konzil lehrt also, daß die durch philosophisches Nachdenken erlangte Wahrheit und die Wahrheit der Offenbarung weder sich miteinander vermischen noch einander überflüssig machen. »Es gibt zwei Erkenntnisordnungen, die nicht nur im Prinzip, sondern auch im Gegenstand verschieden sind: im Prinzip, weil wir in der einen [Ordnung] mit der natürlichen Vernunft, in der anderen mit dem göttlichen Glauben erkennen; im Gegenstand aber, weil uns außer der Wahrheit, zu der die natürliche Vernunft gelangen kann, in Gott verborgene Geheimnisse zu glauben vorgelegt werden, die, wenn sie nicht von Gott geoffenbart wären, nicht bekannt werden könnten.“

Also über was sich erwachsene Männer im Jahre 1869 stritten, ist schon verblüffend. Das ganze Teil ist so schräg wie Dante. Dieses Konzil stellte im übrigen auch die Unfehlbarkeit des Papstes fest, beendete damit also den beliebigen Pluralismus. Der Papst postuliert also, dass es zwei Wahrheiten gibt, die, die aus der natürlichen Vernunft folgt und die, die aus der Offenbarung folgt. Die natürliche Vernunft ist die Fähigkeit des Menschen zu denken (für den Papst, der hier Thomas von Aquin folgt, ist die Feststellung, dass der Mensch zum Denken fähig ist, bedeutsam, denn beide kannten, offensichtlich, auch die Selbstbeobachtung und konstatierten folglich eine Diskrepanz zwischen sich selbst und ihrer Umwelt). Dann gibt es noch die geoffenbarte Wahrheit, das hat irgendwie was mit Christus zu tun, der hat sich geoffenbart als Sohn Gottes, wie auch immer. Wäre er aber nicht gekommen, dann hätten wir Gott nicht erkannt, Gott hat uns also gnädig seinen Sohn geschickt, damit wir ihn erkennen. Das ist zwar ein bisschen besser als die Geschichte mit dem Apfel, aber richtig gut ist es auch nicht. Das könnte man mal recherchieren. Der Text zeigt aber auch ein Problem des Deutschen, auf das der Autor schon öfter bei der Korrektur wissenschaftlicher Abhandlungen gestoßen ist: Komposita. Der Begriff Erkenntnisordnung ist nonsense, weil die Beziehung zwischen dem Determinatum (Ordnung) und dem Determinans (Erkenntnis) nicht offen gelegt wird. Ist es die Ordnung in der Erkenntnis, die ordentliche Erkenntnis, die geordnete Erkenntnis? Meint er vielleicht schlicht die Methode, mit der Erkenntnisse gewonnen werden? Das meint er wahrscheinlich, aber eine Methode ist keine Ordnung. Vielleicht ist Dante deshalb zu solcher Berühmtheit gelangt, weil es viele Leute gibt, die den christlichen Hokuspokus so einigermaßen intus haben und sich freuen, wenn sie selbigen nochmal in Terzinenform lesen können. Für den Autor zwar nicht nachvollziehbar, aber offensichtlich ist es ein schönes Gefühl, die Meinung, die man ohnehin hat, nochmal in Terzinenform bestätigt zu sehen. Es gibt ja auch Leute, die nur die Zeitungen lesen, die ihr Weltbild bestätigen. Wie dem auch immer sei, der Uropa von Dante erzählt etwas, was sich mit der natürlichen Vernunft von uns Erdenwürmern einfach nicht fassen lässt.

Doch als die Feuerpfeife der Gedanken
Allmählich erst vom hohen Fluge nieder
In irdischen Verstehens Grenzen sanken,

Scholl als das erste – mir verständlich wieder -
Der Ruf: „Heil dir, Dreieinigkeit, und Preis,
Die du gesegnet meines Stammes Glieder!“

Also in der ersten Terzine teilt er uns mit, dass er irgendwann seine Rede an die intellektuellen Fähigkeiten der Erdenwürmer angepasst hat. Was allerdings dann kommt, finden wir immer noch ziemlich hochfliegend. Die zweite Terzine sieht im Original so aus:

la prima cosa che per me s'intese,
«Benedetto sia tu», fu, «trino e uno,
che nel mio seme se' tanto cortese!».

Das erste, was von mir ward verstanden,
war „Gebenedeit seist du, „drei in einem“,
dass in meinem Samen so viel Adel!

Er lobpreist also die Dreifaltigkeit (trino e uno / drei und eins, drei Wesen – Vater – Sohn – heiliger Geist, in einem Wesen vereint), die dafür gesorgt hat, dass er so einen tollen Nachkommen hat.

Und dann: „Was ich ersehnte lang und heiß,
Seit ich in Gottes großem Buch gelesen,
Darin sich nie verwandelt Schwarz und Weiß,

Des bin ich jetzt in dieser Glut genesen
Aus der ich spreche, heißer Dank sei ihr,
Die Leitstern dir zum Himmelsflug gewesen!

Im Original

E seguì: «Grato e lontano digiuno,
tratto leggendo del magno volume
du' non si muta mai bianco né bruno,

solvuto hai, figlio, dentro a questo lume
in ch'io ti parlo, mercè di colei
ch'a l'alto volo ti vestì le piume

Und er fuhr fort: “Gnädiges und weites Sehnen,
eine Eingebung entstanden bei der Lektüre des großen Buches
wo nie vertauscht wird weiß und schwarz

hast du, Sohn, erfüllt, innerhalb des Kreuzes
von dem aus ich mit dir spreche, dank jener
die zu hohem Flug die Flügel dir hat gegeben

Sein Ur- oder Ururopa findet also, dass er nun herabgestiegen sei auf ein Niveau, dass ein menschliches Hirn, ausgestattet mit banaler natürlicher Vernunft, ihm folgen kann. Das sind natürlich deprimierende Aussichten für den Autor insbesondere, weil diese Stelle nirgends kommentiert wird. Der Autor vermutet, dass uns Cacciaguida mitteilen will, dass er teilnimmt an Gottes Vorhersehung (Lektüre des großen Buches) und Dante folglich schon sehnsüchtig erwartet hat. Die Teilnahme an Gottes Vorhersehung ist natürlich ein Teil der höheren Wahrheit, die kommt nicht aus den Büchern (vertauscht wird schwarz und weiß), sonder erfolgt schwups durch Gottes Gnade. Die „Jene“ ist Beatrice, die hat ihm die Flügel verliehen, mit denen er noch oben geschwebt ist. Der Autor möchte Sie nochmals davor warnen, sich allzu tief in diese Gedankenwelt einzulassen und er haftet auch nicht für eventuelle Schäden. Sollten Sie diese Verse von Theodor Storm nicht mehr verstehen, wenden Sie sich an die Sektenbeauftragte des deutschen Bundestages und lassen Sie sich fachmännisch betreuen.

Der Glaube ist zum Ruhen gut,
doch bringt er nichts von der Stelle;
Der Zweifel in ehrlicher Männerfaust,
der sprengt die Pforten der Hölle.

Sie können also wirklich nicht behaupten, der Autor hätte Sie nicht gewarnt und dass er Werbung macht für irgendeine obskure Sekte wie die katholische Kirche. Der Autor kennt im Übrigen auch viele katholische Gruppierungen, auch Gruppierungen von Menschen mit Immigrationshintergrund, die bestimmte unbedingte Elementarwerte wie Solidarität und Aufgeschlossenheit leben und nach außen tragen und nebenbei noch alle möglichen Musikstile kreativ zu etwas Neuem verbinden, die aber im übrigen den lieben Gott auch mal einen guten Mann sein lassen. Das ist natürlich eine rundum gute Sache. Über die Führungsspitze dieser Organisation, insbesondere über deren intellektuelles Niveau, kann man aber durchaus mal nachdenken. Des weiteren wird man sich die Frage stellen müssen, ob es sinnvoll ist, mit Steuergeldern eine Organisation zu unterstützen, bei der man absolut nicht sicher sein kann, dass sie die pluralistische Gesellschaft und die freiheitlich, demokratische Grundordnung tatsächlich bejaht. Wer in der pluralistischen Gesellschaft nur die Relativierung von Wahrheiten erkennt, behauptet, dass er im Besitz derselben ist.

Du wähnest, dein Gedanke käm zu mir
Vom Urgedanken her, wie man entfalten
Wohl aus der Einzahl kann die Drei und Vier?

Im Original

Tu credi che a me tuo pensier mei
da quel ch'è primo, così come raia
da l'un, se si conosce, il cinque e 'l sei

Du glaubst, dass dein Gedanke mir
Von jenem ersten ströme, wie die
Eins, die man kennt, zur fünf und sechs führt

Dante glaubt also, behauptet Cacciaguida, dass seine Gedanken ihm (also Cacciaguida) von Gott (quel ch‘ è primo) vermittelt werden, also im Paradies alles eine Einheit bildet und sich aus dieser Einheit heraus alles entwickelt, so wie sich alle Kardinalzahlen als Vielfaches der Eins darstellen lassen. Das klingt ganz nach der Beschreibung des Borg Kollektivs in Deep Space Nine bzw. wie ein Ameisenhaufen, bei dem alle von der Königin fremdgesteuert werden und einziger Lebenszweck es ist, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Das hat den unbestechlichen Vorteil, dass ein Prozess der Individualisierung nicht nötig ist und den bedeutenden Nachteil, dass das Leben ohne Individuen ziemlich langweilig ist. Überhaupt scheint das bei der katholischen Kirche ein bisschen merkwürdig zu sein, die Würde des Menschen, so meint doch der Ratzinger, Joseph, ließe sich allein durch Gott begründen. Viel rationaler wäre es ja zu sagen, der Wert eines Menschen ergibt sich aus dem, was er anderen gibt. Um aber anderen was zu geben, muss man ab und an mal reichlich gegen den Strich bürsten. Von dem tiefreligiösen Larry Wall zum Beispiel, Erfinder der Programmiersprache Perl (die wiederum Vorbild für x andere Programmiersprachen wie PHP ist), auf der die meisten interaktiven Webanwendungen aufbauen, stammt dieser Spruch: Die meisten Menschen werden daran gemessen, was sie anderen Leuten an Euros aus der Tasche ziehen. Man könnte Menschen auch daran messen, was sie anderen Leuten geben. Diese Einstellung hat ganz konkrete Folgen. Perl ist frei und hat viele Leute befähigt, höchst sinnvolle Internetanwendungen zusammenzubasteln. Der Autor sieht noch nicht, wie eine Drohne, so heißen die assimilierten (ins Borgkollektiv integrierte) Individuen in Deep Space Nine dem Kollektiv noch irgendwas nützen können und er sieht auch noch nicht, wie sich eine Gesellschaft weiterentwickeln soll, bei der alle denselben Quark vom Himmelreich erzählen. Das Individuum wird die Menschheit auch ganz ohne Gott hochschätzen, denn ohne Individuen sieht es düster aus, kulturell, wirtschaftlich und technisch. Die Welt wäre vielleicht bunter, wenn man die Südamerikaner, also die Menschen, die dort ursprünglich lebten, nicht in das Borgkollektiv des christlichen Glaubens assimiliert hätte. Man könnte geradezu auf die Idee kommen anzunehmen, dass je höher Gott ist, desto geringer der Respekt vor dem Individuum und dessen Auseinandersetzung mit der Welt. Gedanken machen kann man sich darüber, ob wir tatsächlich in einer pluralistischen Gesellschaft leben oder ob nicht die Kulturindustrie, die Medien und die Journaille mit freundlicher Unterstützung der verbeamteten Geistlichen den Leuten das Hirn mit Müll volldreckt. Der Autor ist sich nicht so sicher, ob Gott die Menschheit irgendwann erleuchtet, das hat er die letzten 2000 Jahre nicht getan. Er ist sich aber sehr sicher, dass das Internet die Kreativität, die um den Globus rollt, entfesselt.

Drum hast du auch der Fragen dich enthalten,
Wer ich denn sei? Warum ich froher bin,
Beglückter als die andern Lichtgestalten?

Cacciaguida geht also davon aus, dass Dante davon ausgeht, dass er (Cacciaguida) die Frage, die er (Dante) ihm stellen will, schon kennt und Dante folglich gar nicht fragt. Er will uns also mitteilen, dass im himmlischen Borg Kollektiv die Drohnen schon alle perfekt über den Bewußtseinszustand der anderen Drohnen informiert sind, was übrigens für die Borgdrohnen durchaus zutrifft. Wir vermuten mal, in Anbetracht der Tatsache, dass wir auch keinen Hinweis in der Sekundärliteratur finden können, dass hier irgendwie Thomas von Aquin nicht referiert wird, dass Dante sich das selber ausgedacht hat. Warum es aber ein paradiesischer Zustand ist, wenn alle die Gedanken der anderen lesen können, bleibt durchaus unklar. Sagen will er uns wohl, dass im Paradies niemand irgendetwas vor einem anderen verbirgt, was ja eher ein tiefer Eingriff in die grundrechtlich garantierte Privatsphäre ist und einen irgendwie auch an Aldous Huxley erinnert, der in seinem Buch „Brave New World“ die totale Gedankenkontrolle beschreibt. Da Dante einen Zustand positiv bewertet, bei dem die Gedanken via göttlicher Eingebung allen anderen deutlich sind, würde er diesen Zustand wohl nicht nur im Paradies, sondern auch auf der Erde gut finden. Der Autor würde sagen, dass er, wie auch der Katholizismus, damit das Individuum degradiert. Es sind gerade die manchmal etwas wirren und verschlungenen Wege, Wege, die von den Zeitgenossen nicht unbedingt verstanden und goutiert werden, die die menschliche Kultur hervorbringen. Selbst wenn die Zeitgenossen Goethes dessen Gedanken hätten lesen können, dann hätten sie sie nicht verstanden. Erst als sich Dynamik zwischen dessen komplexem Gemüt und der ihn umgebenden Welt auf Papier niederschlug, entstand etwas, was die Menschheit weiterbrachte. Der Wunsch nach Gedankenkontrolle entsteht auch immer nur in totalitären Gesellschaften, die dann auch, durchaus folgerichtig, künstlerisch steril sind. Die Bedingungen für Kunst sind nämlich denkbar schlecht, wenn den potentiellen Rezipienten das Hirn mit irgendwelchem Ideologiequark zugekleistert wurde. Ohne Rezipienten hat es die Kunst schwer. In diesem Sinne darf auch die gesamte Menschheit stolz sein auf ihre Literatur. Es gibt doch eine Menge Leute, die bereit sind, einen Schriftsteller bei seiner individuellen Auseinandersetzung mit der Welt zu begleiten. Der Papst mag das Relativismus nennen oder beliebigen Pluralismus, andere Leute, wie der bedeutende spanische Philosoph Miguel de Unamuno beschreiben das so.

Y yo responderé: mi religión es buscar la verdad en la vida y la vida en la verdad, aun a sabiendas de que no he de encontrarlas mientras viva; mi religión es luchar incesante e incansablemente con el misterio; mi religión es luchar con Dios desde el romper del alba hasta el caer de la noche, como dicen que con Él luchó Jacob.

Und ich werde antworten: "Meine Religion ist es, die Wahrheit im Leben zu suchen und das Leben in der Wahrheit und zwar auch dann, wenn ich weiß, dass ich sie zu Lebzeiten nicht finden werde. Meine Religion ist es, unaufhörlich und unermüdlich mit dem Mysterium zu kämpfen. Meine Religion ist es, mit Gott zu kämpfen, vom Morgengrauen an bis zum Einbrach der Nacht, ganz so wie Jakob mit Ihm kämpfte."

Miguel de Unamuno, Mi religión

Das ist, soit dit en passant, ziemlich faustisch. Faust ist nicht deswegen groß, weil er eine Wahrheit findet, sondern weil er nicht locker lässt.

Dass also im Mittelalter wenig bedeutende Werke entstanden sind und so etwas wie die Divina Commedia herausragt, sagt wenig über die Divina Commedia, aber viel über die Verfasstheit der Gesellschaft des Mittelalters an der Schwelle zur Hexenverbrennung. Rezipienten gab es wohl nur für einen katholischen Ideologiequark. Da Ideologien sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnen, haben sie auch ein Interesse daran, die Gedanken zu beherrschen, von der Inquisition führt ein direkter Weg zur Stasi. Sie mögen subjektiv der Meinung sein, ganz unterschiedliche Dinge zu vertreten, objektiv vertreten sie das Gleiche. Es gäbe also für den Ratzinger, Joseph interessante Themen, über die er sich mal in Buchform äußern könnte. Wer im Übrigen für gesellschaftliche Fragen eine Antwort sucht, der möge sich an der modernen Volkswirtschaftlehre orientieren. Sie setzt nicht, wie Ideologien, am Bewußtsein des Einzelnen an, sondern sieht die Verhaltensweisen der Menschen, etwa Gewinnstreben, als objektiv vorliegende Paramenter an und versucht, diese durch die entsprechende Ausgestaltung des Ordnungsrahmens sinnvoll zu nutzen. Hierbei folgt sie keineswegs einem beliebigen Pluralismus, sondern ganz im Gegenteil, sie stellt falsifizierbare Thesen auf, die widerlegt und damit auch korrigiert werden können. Vielleicht sollten die Bischöfe mal ein Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre in die Hand nehmen.

Und du glaubst recht: Wir alle blicken hin
Zum Spiegel hier, damit er kund uns mache,
Eh du ihn dachtest, des Gedankens Sinn.

Cacciaguida teilt also Dante mit, dass im Paradies alle an das Borgkollektiv angeschlossen sind. Dies scheint für die geistig Trägen ein angenehmer Zustand zu sein. Bösartig wie wir sind, vermuten wir aber, dass uns Dante etwas anderes sagen will. Er will uns eine Gesellschaft als ideal beschreiben, bei der alle schlicht das Gleiche denken und deswegen auch jeder weiß, was der andere denkt. Die göttliche Vermittlung geht also weniger durch eine Verkabelung mit Gott als Zentralrechner oder einen Spiegel, in dem alle die Gedanken aller lesen können, sondern eher dadurch, dass alle an Gott und an den ganzen Hokuspokus drum rum glauben. Wie man jetzt aber behaupten kann, wie dies der Ratzinger, Joseph tut, dass die Würde des Menschen sich nur über Gott definiert, ist dem Autor ein Rätsel. Wer dem Individuum abspricht, seinen eigenen Weg zu finden und als Ideal hypostasiert, dass selbiges den katholischen Glauben annimmt, der verachtet es, degradiert es zur Borgdrohne. Erstaunlich ist, dass führende deutsche Politiker, wie dieser Wurzelsepp von der CSU, dessen Name mir gerade entfallen ist, tatsächlich der Meinung ist, dass das Christentum das Fundament Europas ist. Ging da in der Schule bei der Vermittlung des Faust etwas schief, kam da eine zentrale Botschaft nicht an? Dort bemerkt Gott:

Du darfst auch da nur frei erscheinen;
Ich habe deinesgleichen nie gehaßt.
Von allen Geistern, die verneinen,
ist mir der Schalk am wenigsten zur Last.
Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen,
er liebt sich bald die unbedingte Ruh;
Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu,
Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen.
Doch ihr, die echten Göttersöhne,
Erfreut euch der lebendig reichen Schöne!

Ein sinnvolles Bildungsziel wäre, den zukünftigen Politikern klar zu machen, was die Fundamente der abendländischen Kultur sind, wie sie in Goethes Faust dargestellt werden und was der Gegenstand der Wette zwischen Mephistopheles und Gott ist. Gott will Menschen, die nie aufhören nach der Wahrheit zu suchen, wobei Wahrheit im allerweitesten Sinne begriffen wird, also auch die Suche nach gelungener Identität, Glück und einer stabilen Gesellschaftordnung mit einschließt. Diese Suche findet statt in einem dynamischen Umfeld. Sowohl Faust wie auch der utopische Horizont verschiebt sich, weder das Individuum noch der utopische Horizont sind statisch. Das ist nicht abstrakt, das ist höchst konkret. Jeder weiß, dass sich die Sehnsüchte, Wünsche, Vorstellungen im Verlaufe eines Lebens ändern und die Möglichkeiten und Fähigkeiten diese zu realisieren sich ebenfalls ändern. Der Katholizismus und sein Repräsentant Dante sehen sowohl das Individuum wie auch den utopischen Horizont statisch. Das mag so sein, aber nur bei Faulpelzen und das ist es, was Gott nicht will, Faulpelze. Deswegen bezeichnet Gott Faust als seinen Knecht und die Wette hätte Gott verloren, wenn das passiert:

Faust: Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,
So sei es gleich um mich getan!
Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
(...)
Das sei für mich der letzte Tag!
Die Wette biet ich!

Bei Dante ist es das höchste Ziel, eine Wahrheit zu erkennen und nach diesem Leitbild zu leben. Bei Faust ist es das höchste Ziel, diese zu suchen. Das Christentum ist folglich nicht das Fundament der abendländischen Kultur, es ist der Gegenspieler derselben, denn die abendländische Kultur steht, zumindest solange sie vernünftig war, eher in dieser Tradition. Ob die Zwangschristianisierung weiter Teile dieser Welt lediglich ein Betriebsunfall war oder ob sie sich nicht aus der Ideologie des Christentums zwingend ergibt, wäre die tatsächlich spannende Frage. Die Methoden der Inquisition und die Methoden der Stasi sind ähnlich. Faust sucht die Wahrheit, das ist unproblematisch. Dante hat die Wahrheit und das ist ein Problem.

Doch dass die heilge Liebe – drin ich wache
Mit stetem Schaun, und die mit Wonnigkeit
Mir Sehnsucht zeugt – dass sie mir heitrer lache,

Lass freudig mir, lass ohne Schüchternheit
Und frei die Stimme dein Verlangen sagen,
Drauf ich die Antwort habe schon bereit.“

Im Original

ma perché 'l sacro amore in che io veglio
con perpetua vista e che m'asseta
di dolce disiar, s'adempia meglio,

la voce tua sicura, balda e lieta
suoni la volontà, suoni 'l disio,
a che la mia risposta è già decreta!

Doch damit die heilige Liebe in der ich wache
immer schauend und die mich erfüllt
Mit süßem Sehnen, sich heitrer noch enthülle

soll deine Stimme erklingen, frei und fröhlich,
soll dein Wunsch erklingen, den Begehren,
für die meine Antwort schon steht bereit

Unter Umständen versucht Dante jetzt ein ernsthaftes logisches Problem zu überwinden. Wenn die sowieso Gedanken lesen können da oben, dann ist ein Dialog im Grunde ja völlig sinnlos, ein Dialog macht ja in der Regel nur dann Sinn, wenn es auch etwas gibt, was man dem anderen mitteilen kann. Wenn dieser aber eh alles weiß, dann braucht man es ihm auch nicht mitzuteilen. Es sei aber konzediert, dass Kommunikation oft eben nicht im Austausch von Informationen besteht, sondern eine rein soziale Funktion erfüllt. In diesem konkreten Fall ist er eben so in Liebe erglüht, dass er die Stimme des Geliebten unbedingt hören will. Kann vorkommen, das ist ja auch das business Konzept der Telephongesellschaften. Wäre die Kommunikation auf den Austausch von Informationen beschränkt, würden die Pleite machen.

Ich sah auf sie – und eh ich noch zu fragen
Vermochte, winkte lächelnd ihr Gesicht:
Ich solle dreist die scheuen Flügel schlagen.

Im Original

Io mi volsi a Beatrice, e quella udio
pria ch'io parlassi, e arrisemi un cenno
che fece crescer l'ali al voler mio

Ich wandte mich Beatrice zu und jene hörte
Noch bevor ich sprach und gab mir ein Zeichen
das meinem Wollen Flügel gab

Das ist jetzt nichts Neues, Beatrice durchschaut ihn schon die ganze Zeit, gibt Antworten auf die abstrusesten Fragen, noch bevor er sie überhaupt gestellt hat. In diesem Fall allerdings konnte sie die Frage aus dem Kontext erschließen, es war ja klar, dass Dante, von Cacciaguida aufgefordert, jetzt was fragen will und er sie folglich fragen wollte, ob er was fragen darf. Weiter kommt insofern ein neues Element dazu, als die Gedankenleserei jetzt als Idealzustand dargestellt wird, der durch Gott ermöglicht wird. Unter Umständen hatte Dante die Logik im Sinn, die auch hinter der Beichte steht. Da soll man ja auch, damit einem die Sünden vergeben werden, einem anderen alle Sünden erzählen, die Steigerung ist dann, dass der andere das schon weiß. Würde dieser Zustand auch im irdischen Jammertal als Ideal empfunden, dann wäre der Bundestrojaner auf jedem Rechner die logische Konsequenz. Das Problem bei Dante ist, dass er immer nur andeutet, aber nie seine Ideenwelt umfassend darstellt, es fällt von daher schwer, dazu Stellung zu nehmen.

So sprach ich denn: „Bei euch im ewigen Licht,
Seit ihr die erste Gleichheit habt ergründet,
Steht Einsicht und Verstand im Gleichgewicht.

Weil sie, die euch erhellt, erwärmt, entzündet,
Die Sonne, alles so ins Gleiche bringt,
Wie kein Vergleich der Ähnlichkeit es kündet.

Im Original

Poi cominciai così: «L'affetto e 'l senno,
come la prima equalità v'apparse,
d'un peso per ciascun di voi si fenno,

però che 'l sol che v'allumò e arse,
col caldo e con la luce è sì iguali,
che tutte simiglianze sono scarse

Ich begann also: „Die Neigung und das Handeln,
halten sich bei jedem von euch die Waage,
weil euch erschienen ist, die höchste Harmonie,

weil doch die Sonne, die entzündet und lässt brennen,
mit einem so ausgewogenen Verhältnis an Licht und Wärme,
dass nichts ist, was diese Ausgewogenheit beschrieben

Aus den oben erwähnten Gründen werden wir nicht sagen, dass „dunkel seiner Rede Sinn“ ist, wie es bei Shakespeare so schön heißt, denn würde man sich das angewöhnen, dann würde der Satz hier in etwa 3400 mal auftauchen, nämlich nach jeder Terzine. Wir können aber feststellen, dass niemand so recht weiß, was uns der Dichter mit seinem Werk sagen will. Rudolf Baehr, der den Kommentar zur Reclam Ausgabe geschrieben hat, schreibt Folgendes:

Gott, dessen Eigenschaften alle gleich vollkommen sind, so dass man von ihm sagen kann, Gott ist die Liebe, Gott ist die Wahrheit usw.

Divina Commedia, Reclam Verlag, Seite 506

Allerdings erklärt er nicht, wie er auf diese Deutung kommt und ein rechter Zusammenhang zu der Terzine ist auch nicht erkennbar. Italienische Interpreten (http://www.mediasoft.it/dante/) geben nun folgende Deutung. Das Wörtchen senno übersetzen sie mit (e il potere di agire / Fähigkeit zu handeln) und Gott mit(la prima equaltà / die erste Gleichheit). Beide sind bei Gott ausgeglichen, er tut was er fühlt, was ja vordergründig grenzwertig ist, da aber Neigung in Richtung Liebe geht und die von oben kommt, ist es ein Idealzustand, wenn man liebt, was man tut und das, was man liebt sofort tut. Von Gott (il sole) zur Liebe entfacht, tun die oben auch gleich das, was sie lieben, wobei das Licht (also die Liebe) zur Wärme (der Energie, die es braucht, um etwas auszuführen) in Einklang steht. Wenn wir jetzt etwas in Dante hineininterpretieren wöllten, was wir aber nicht wollen, weil wir ihm eine aus dem vollen, prallen Leben gegriffene Bemerkung nicht zutrauen, dann könnte man hierin das Problem der Identität beschrieben sehen. Bekanntlich herrscht ja Identität dann, wenn der Hammer auf den Ambos knallt, also jemand etwas tut, das er auch aus ganzem Herzen bejaht. Da aber Menschen immer sehr viele Dinge auf einmal wollen, ist das immer ein bisschen schwierig, weil man alle Empfindungen, Sehnsüchte, rationale Beurteilungen und moralische Erwägungen schlecht unter einen Hut bringen kann. Die Aussage Dantes, dass, ganz von Gottes Geist durchdrungen das Wollen und das Handeln perfekt übereinstimmen, Identität also dann gelungen ist, ist ein Loblied auf die Deppen dieser Welt. Wie trällerte es vor Jahren:

Ich wär‘ so gern so blöd wie du
Dann hätt ich endlich meine Ruh

Wenn nur ein einziges Basalganglion die Hirnfunktion übernommen hat, gelingt Identität immer. Schwieriger wird das bei so Typen wie dem Faust. Die wollen sehr vieles auf einmal und wer alles Mögliche unter einen Hut bringen will, der hat ein Problem. Allerdings interessiert sich Gott in Goethes Faust nicht für die Deppen dieser Welt. Würde man Dante damit nicht intellektuell überfordern, dann würde man noch anmerken, dass das Identitätsproblem de facto gar nicht existiert und das ist das Problem. Die Identität gelingt bei sehr vielen Leuten auf Anhieb, von der Borgdrohne sind wir gar nicht mehr so weit weg und das ist das eigentliche Problem. Im Hinblick auf die Identität, die kampflos errungen wird, bemerkte der Übervater der deutschen Nation schon vor 250 Jahren zutreffend:

Und solang du das nicht hast
Dieses stirb und werde
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der schönen Erde

Aber wie gesagt, man würde den Terzinenschmied zu ernst nehmen, würde man ihn unter der Kategorie Erpresste Versöhnung nach Adorno interpretieren.

Doch Einsicht, Wunsch, wie sie der Mensch erringt,
Sie sind aus dem euch wohlbekannten Grunde
Zum Flug mit ungleichmäßiger Kraft beschwingt, -

Das ist irgendwie die Dante Version von „der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach“. Er will uns irgendwie suggerieren (…aus dem euch wohlbekannten Grunde…), dass das schrecklich tiefsinnig ist, was wir ihm wiederum nicht abnehmen.

Mit solchem Mangel im unlösbarn Bunde
Dank ich als Sterblicher nur mit der Seele
Dir für die Vatergunst, nicht mit dem Munde.

Dazu schreibt dann Baehr (op.cit.): Dante kann nicht mit Worten ausdrücken, was er für Cacciaguida empfindet.

Tja, was soll man dazu sagen. Da teilt uns ein Dichter mit, dass er seinen Empfindungen mit Worten nicht Ausdruck verleihen kann. Das sollte ein Dichter aber können. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, dass Dante damit ein Problem hat, das haben wir auch schon festgestellt. Dante versucht diese Unfähigkeit nun dadurch zu erklären, dass bei den Menschen das Wollen und das Handeln auseinander driften können. Die Argumentationsweise ist etwas dahergeholt und scheint dem ausschließlichen Zweck zu dienen, die Unfähigkeit Dantes zur lyrischen Produktion metaphysisch zu rechtfertigen. Positiv kann man nur anmerken, dass Dante wohl offensichtlich ahnt, dass Dichtung über die Worte hinausgeht. Hinter den Worten liegt aber nicht das Reich Gottes, in dessen Sphären einzudringen dem Menschen unmöglich ist (das Reich Gottes ist lediglich ein himmlisch / göttliches Megaloch), sondern eine komplexe Dynamik zwischen einem Individuum und seiner Umwelt, die sich der Beschreibung durch Worte entzieht. Wer will, kann das auch höchst logisch finden. Der Mensch übernimmt als Tabula rasa eine Sprache, in der sich Erfahrung verdichtet hat, die er erstmal nicht hat, in die er aber hineinwachsen kann. Sprache ist aber somit immer geschichtlich. Für die Zukunft hat sie das Vokabular noch nicht gefunden, denn diese konnte sich noch gar nicht sprachlich verdichten. Der Dichter kann auch deshalb nicht mit der Sprache arbeiten, weil die Sprache der gemeinsame Nenner eines Kollektivs ist. Der Dichter braucht aber eine Sprache, die individuell ist, diese existiert aber nicht. Dante hat also gleich vier Probleme. Das erste besteht darin, dass er ein Problem, das sich logisch aus der Struktur der Sprache ergibt als ein metaphysisches Problem interpretiert und dass er zweitens seine Unfähigkeit zur lyrischen Produktion metaphysisch rechtfertigt. Drittens vermutet er, dass es Aufgabe des Dichters ist, über himmlisch / göttliche Megalöcher zu schreiben, was weder möglich, wie er selber zugibt, noch Aufgabe des Dichters ist. Dieser schreibt über die komplexe Dynamik eines Individuums zur Umwelt. Viertens und das ist sein größtes Problem, setzt der Dichter seine individuelle Verarbeitung der Welt gegen eine allgemeine Verarbeitung, dies, und das ist das eigentliche Rätsel, setzt eine besondere Persönlichkeit voraus. Das Problem bei Dante ist, dass sich hier nicht ein Individuum der Logik der Welt entgegenstellt, sondern hier jemand schlicht alles, was er sich angelesen hat, zu Terzinen verhackstückt. Wir konzedieren aber, dass die Erfindung des Individuums erst ein paar Jahrhunderte später geschah.

Nun bitt ich dich, o hellstes der Juwele,
Das hier verschönt das funkelnde Geschmeide:
Nicht länger deinen Namen mir verhehle!“

Der Vorspann war a bisserl lang, aber schlussendlich will er den Namen wissen. Wir ahnen aber schon, dass der andere eben selbigen erst nach einem noch längeren Vorspann herausrücken wird.

„Du Blättlein, längstersehnte Augenweide,
Sieh deines Daseins Wurzel denn in mir,“
Begann er und fuhr fort dann im Bescheide:

Im Original

«O fronda mia in che io compiacemmi
pur aspettando, io fui la tua radice»:
cotal principio, rispondendo, femmi

O Laub auf das zu warten
Mich erfreute, ich war deine Wurzel
Begann er, mir Antwort gebend, seine Rede

Er ist also die Wurzel oder der Stamm, der das Laub Dante hervorgebracht hat.

„Der Ahn, der euch vererbt den Namens Zier,
Der länger als seit hundert Sonnenbahnen
Der ersten Sims umkreist im Bergrevier,

Er war mein Sohn, der Vater deiner Ahnen:
Zu kürzen ihm des Bußwegs lange Pein
Durch gute Werke, lass mein Wort dich mahnen!

Im Original

Poscia mi disse: «Quel da cui si dice
tua cognazione e che cent'anni e piùe
girato ha 'l monte in la prima cornice,

mio figlio fu e tuo bisavol fue:
ben si convien che la lunga fatica
tu li raccorci con l'opere tue.

Dann sagte er mir: “Der, von dem
Dein Name stammt und der seit mehr als hundert Jahren
den Berg umkreist auf der ersten Stufe

war mein Sohn, dein Urgroßvater:
es gereicht dir zum Wohle, dass du lange Anstrengung
verkürzt, durch gute Werke

Also wenn Sie das durchhaben, sind Sie besser über den Urgroßvater Dantes informiert als über Ihren eignen. Der Autor kennt noch seinen Opa, aber dann hört es auf. Auf jeden Fall haben da Leute richtig Scharfsinn entwickelt, um herauszufinden, wer der Ururgroßvater Dantes war. Der erste, der diesen Namen trug (also der Sohn von Cacciaguida) war ein gewisser Aldighiero, der wird 1189 in einer Urkunde erwähnt. Der wiederum war der Vater von Bellincione Aldighiero und der wiederum war der Vater Dantes.

Cacciaguida => Aldighiero => Bellincione Aldighiero => Dante

Dieser Aldighiero, also Dantes Opa, dreht noch Runden auf der ersten Stufe des eigentlichen Läuterungsberges, da wo die Hochmütigen ihre Runden drehen.

Die Moralpredigt kommt jetzt etwas unvermittelt, holt sofort aus zu einer geschichtlichen Gesamtdarstellung. Sie können froh sein, dass Römisches Reich und Mittelalter schon durch ist, es bleibt nur noch die Geschichte von irgendwelchen Städten, in diesem Fall Florenz, das handelt er mal so kurz und knackig in einer Terzine ab, für das Römische Reich hat er ja einen vollen Gesang gebraucht.

Florenz, im alten Ringwall, eng und klein,
Von wo noch heute klingen Terz und Nonen,
War mäßig damals, friedlich, sittenrein.

Im Original

Fiorenza dentro da la cerchia antica,
ond'ella toglie ancora e e nona,
si stava in pace, sobria e pudica

Florenz innerhalb seiner alten Mauern,
wo sie noch heute schlägt

Angespielt wird auf eine Kirche Badia, die zu einem Benediktinerkloster gehörte. Diese schlug alle drei Stunden was dann zu der Einteilung Prima, Terza, Sesta und Nona führte (zwei Runden, denn viermal drei gibt 12, das ist ein halber Tag). Das Gebimmel war dann höchstwahrscheinlich in dieser Reihenfolge.

24 Uhr prima
3 Uhr terza
6 Uhr sesta
9 Uhr nona

12 Uhr prima
15 Uhr terza
18 Uhr sesta
21 Uhr nona

Dass dieses Florenz dann sittenrein war, ist vollkommen klar, denn wenn die Leute um 12 Uhr nachts und 3 Uhr morgens wachgerüttelt wurden, sind sie tagsüber so todmüde, da sind sie sogar sittenrein.

Da gab‘ s nicht goldne Kettlein, Krausen, Kronen,
Nicht perlgestickte Schuh noch Gürtelspangen -
Die anzusehn mehr als die Weiber lohnen!

Im Original steht da nicht Weiber, sondern persona, also Person, ist aber auch egal, der Autor hat keine Ahnung, wo Dante hinschaut.

Den Vater machte nicht die Tochter bangen
Bei der Geburt schon, dass sie früh ein schlimmer,
Mitgiftbegierger Freier möcht verlangen.

Das ist in der Tat übel, ergibt sich aber aus dem, was er ein paar Terzinen weiter unten gut findet, die sittsame Frau sitzt an der Spindel. Und das ist das Problem. Wer sich nicht wehrt, kommt an den Herd.

Bewohnerarme Häuser gab es nimmer,
In Mode war noch nicht Sardanapal,
Mit Prunk zu überladen Saal und Zimmer!

Im Original

Non avea case di famiglia vòte;
non v'era giunto ancor Sardanapalo
a mostrar ciò che 'n camera si puote

Es gab noch keine Häuser, die zu groß für die Bewohner
Sardanapalo war noch nicht bekannt
Der zeigte, was man mit einem Zimmer machen kann

Sardanapal oder Assurdanipal oder Aššur-bani-apli war ein assyrischer König (gest. 631 vor
Christus). Wieso Dante ausgerechnet ihn als Beispiel für prunkvolle Innenarchitektur nennt, ist
unklar.

Uccelatojo hatte Monetemal
Noch nicht besiegt; wie aber jetzt zum Prangen
Gibt er auch zum Verfall einst das Signal!

Im Original

Non era vinto ancora Montemalo
dal vostro Uccellatoio, che, com'è vinto
nel montar sù, così sarà nel calo

Noch ward Montemalo noch nicht bezwungen
von eurem Uccellatoio, der, so wie er ward
bezwungen beim Steigen, so wird er es auch sein beim Fallen

Mit Montemalo ist der Monte Mario gemeint, das ist ein weiterer Berg in Rom (also außer den bekannten sieben Hügeln Roms). Heute ist es ein Stadtteil. Er steht für Rom. Der Uccellatoio soll ein Berg in Florenz sein und ist es wohl auch, er taucht auch bei Casanova auf, aber der Autor hat ihn nicht so richtig finden können. Wie dem auch immer sei, er steht für Florenz. Gemeint ist, dass Florenz Rom an Pracht übertroffen hat, aber auf den Aufstieg bald der Abstieg folgen wird. Was uns Dante damit sagen will, ist weitgehend unklar. Er hat die merkwürdige Angewohnheit, höchst komplexe geschichtliche Zusammenhänge auf irgendeine abstruse Formel zu bringen, mit der kein Mensch was anfangen kann. Offensichtlich will er uns sagen, dass es besser gewesen wäre, wenn Florenz auf dem Niveau irgendeines Bergdorfes, dessen Straßen bei Regen im Schlamm versinken, stecken geblieben wäre. So ähnliche Visionen haben auch die Taliban, obwohl kein Mensch versteht, was das für Vorteile bringt.

Bellincion Bertis Degen sah ich hangen
Im Gurt von Bein und Leder, und sein Weib
Bemalte nicht im Spiegel sich die Wangen.

Im Original

Bellincion Berti vid'io andar cinto
di cuoio e d'osso, e venir da lo specchio
la donna sua sanza 'l viso dipinto;

Bellincion Berti sah ich gehen, gekleidet
In Leder und Knochen, und vom Spiegel kam
Seine Frau, ohne ein bemalt Gesicht

Über diesen Bellincion Berti ist ebenfalls nicht viel bekannt. Für Dante bestand aber offensichtlich seine hervorragendste Eigenschaft darin, dass er schlecht angezogen war und seine Frau sich nicht schminkte. Das auf jeden Fall ist sympathisch, der Autor ist auch immer schlecht angezogen.

Mit bloßem Pelzwams deckten ihren Leib
Nerli und Becchio – fleißig sah man tanzen
Die Spindel als der Frauen Zeitvertreib.

Damit kann der Autor jetzt auch nichts anfangen, vor allem stellt er sich das im Sommer ziemlich heiß vor. Wieso aber die Frauen fleißig die Spindel tanzen ließen, ist ihm endgültig ein Rätsel. Wenn die eh nur, wie der Autor, monatelang mit durchlöcherten Hosen und Hemden rumrennen, brauchen sie auch keine Fäden. Der Autor verlangt ja nicht, dass Dante die keynesianische Makroökonomie im Detail durchschaut, aber muss man tatsächlich Diplom Volkswirt sein um zu sehen, dass ein Angebot auch eine Nachfrage braucht? Irgendwie will Dante nicht nur eine reine Subsistenzwirtschaft, er will am liebsten gar keine. Vielleicht sollte man mal eine Biographie über ihn schreiben: Dante Alighieri, der Taliban der frühen Neuzeit.

O Glück! Ins Ausland gab es kein Verpflanzen,
Man starb daheim; die Frau schlief nicht alleine,
Weil Handel nicht ihr Mann trieb mit den Franzen.

Puh! Lassen wir das einfach auf sich beruhen. Volkswirtschaftslehre war einfach nicht sein Steckenpferd. Allerdings hielte es der Autor doch für angezeigt, wenn das an einer offiziellen Einrichtung abgehandelt wird, Uni oder Schule: etwas auf die wirtschaftliche Bedeutung des Handels einzugehen.

Es wachte an der Wiege traut die eine
Und ahmte drollig Sprache nach und Ton,
Wie lallend spricht zur Elternlust das Kleine,

Er will uns sagen, dass die Eltern noch ihre Kinder selber erzogen haben und nicht eine Amme. Wir vermuten, dass diese Terzine zur aktuellen Diskussion über die Ausgestaltung der Kitas eher wenig beitragen kann, lernen aber, dass es noch was Schlimmeres gibt als Thomas von Aquin, nämlich Dante im O-Ton.

So still-genügsam floss die Daseinsquelle
Friedfertger Bürgerschaft, von Arglist frei,
Hier legte auf so trauter Herberg Schwelle

Maria mich bei meiner Mutter Schrei;
Worauf man mich im alten Taufdom weihte,
Dass ich ein Christ und Cacciaguida sei.

Im Original

A così riposato, a così bello
viver di cittadini, a così fida
cittadinanza, a così dolce ostello,

Maria mi diè, chiamata in alte grida;
e ne l'antico vostro Batisteo
insieme fui cristiano e Cacciaguida

In solch gemächliches, solch schönes
Zusammenleben der Bürger, solch vertraulicher
Nachbarschaft, solch süßer Übereinkunft

setzte mich Maria, herbeigerufen mit lautem Schrei
und im alten Baptisterium
wurde ich Christ und Cacciaguida

Mit „herbeigerufen mit lautem Schrei“ ist wohl gemeint, dass die Mutter Cacciaguidas bei dessen Geburt den Namen Marias rief. Welcher Art das friedliche Zusammenleben war, kommt jetzt.

Zwei Brüder nannt ich mein, und die ich freite,
Die Gattin stammte her vom Pogestade;
Von ihr rührt auch dein Name her – der zweite!

Mit Kaiser Konradin zog ich Kriegespfade,
Bis er mich durch den Ritterschlag geehrt
Als Zeichen seiner Dankbarkeit und Gnade.

Mit Konradin (im Original Currado) ist wohl Konrad II (geb. 1024, gest. 1039) gemeint. Man liest dann ab und an, dass er gegen die Sarazenen (eigentlich ein Volk auf der arabischen Halbinsel, das dann aber allgemein für Araber verwendet wurde) gekämpft haben soll. Allerdings hat der Autor keinen Beleg finden können, dass Konrad II gegen die Sarazenen zu Felde zog. Weiter wird noch darüber spekuliert, ob Dante nicht Konrad III von Hohenstaufen meint. Letzterer war aber nie in Italien. Wir vermuten also, dass Cacciaguida sein ganzes Leben in Florenz verbracht hat und sonntags in die Berge gewandert ist. Dass Dante an der zentralen Stelle (er taucht in den folgenden Gesängen wieder auf) eine Figur hervorhebt, von der, außer dass sie mit ihm verwandt war, nichts überliefert ist, was irgendwie interessant wäre und er diese Figur zum Helden mit im Übrigen zweifelhaftem Ruf hochstilisiert, sagt schon einiges über Dante. Welcher normale Mensch käme schon auf die Idee, sich für seinen Urgroßvater zu interessieren?

Ich schwang im gottgefälligen Streit das Schwert
Wider das Schandgesetz, das euerm Recht
Mit päpstlichem Verrat entzieht den Wert.

Im Original

Dietro li andai incontro a la nequizia
di quella legge il cui popolo usurpa,
per colpa d'i pastor, vostra giustizia

Ihm folgte ich gegen die Niederträchtigkeit
jenes Gesetzes dessen Volk vereinnahmt,
durch die Schuld des Hirten, eure Gerechtigkeit

Da über Cacciaguida und dessen Werdegang nichts überliefert wird und sich in den letzten Terzinen auch nichts mehr findet, was man mit historischen Ereignissen in Verbindung bringen könnte, lassen sich die Terzinen auch nicht mehr interpretieren. Vermutlich ist mit „jenes Gesetz“ der Islam gemeint, der von den Päpsten nicht mit dem, in Dantes Augen, nötigen Eifer bekämpft wurde.

Dort bin ich durch das schändliche Geschlecht
Von jener gleisnerischen Welt geschieden,
Die viel zu Fall bringt durch ihr Lustgeflecht,

Und ging durch Märtyrtum hier ein zum Frieden!“

Wir vermuten, der gute Cacciaguida ist friedlich im Bett entschlummert oder hat sich vor lauter Langeweile so vollaufen lassen, dass er sturzbetrunken irgendeine Treppe runterfiel und im Matsch ertrunken ist. Zumindest ist das genauso plausibel, wie die These Dantes, dass er irgendwo als Märtyrer gestorben ist. Warum er diesen Cacciaguida gewählt hat und diesen auch noch ein Stockwerk höher gesetzt hat als Thomas von Aquin (der eigentlich in die Hölle gehört), Franzl von Assisi und Dominikus, die immerhin geschichtliche Persönlichkeiten sind, bleibt ein Rätsel. Helden, die für den christlichen Glauben den Märtyrertod gestorben sind, gab es zwar nicht so viele wie Märtyrer der Wahrheit, die von der Inquisition zu Tode gefoltert wurden, aber einige gab es, wenn auch nicht in seiner Familie und das scheint sein Problem zu sein. Da musste er dann einen erfinden. Es scheint ihm ein tiefes Bedürfnis zu sein, einen Märtyrer in seiner Familie zu haben.