Die Sonne, die mir einst die Brust erfüllte
Mit Liebe, lehrend so und widerlegend,
Der Wahrheit süßes Antlitz mir enthüllte.
Die Sonne, die mit Liebe ihn einst erfüllte, ist natürlich Beatrice.
Dass sie eine These widerlegt und die andere bewiesen hätte, sehen wir
zwar noch nicht wirklich, wir würden eher sagen, sie hat ihm das Hirn vernebelt,
aber das ist jetzt egal.
Und ich, bekehrt und nicht mehr Zweifel hegend,
Ich hatte mich zur Beichte schon ermannt,
Die Stirn soweit sich‘ s ziemt emporbewegend,
So ähnlich
e io, per confessar corretto e certo
me stesso, tanto quanto si convenne
leva' il capo a proferer più erto;
und ich, um mich selbst als wahrhaftig und wahr
zu erweisen, erhob wie es sich geziemt das Haupt
damit wahrer sei mein Wort
Zoozmann hat also ein bisschen interpretiert. Natürlich kann man sich fragen,
was Dante denn nun Beatrice Gewichtiges zu sagen hat, bei dem es bedeutsam ist,
dass er auch zeigt, dass er es ehrlich meint. Zu beichten allerdings gibt es
in diesem Stadium nix mehr, denn er hat im Lethe gebadet, kann sich folglich
seiner Missetaten gar nicht mehr erinnern, geschweige denn beichten. Wahrscheinlich
wollte er Beatrice nur kund tun, dass er alles verstanden hat, was auch für
Beatrice gut wäre, denn wir gehen eher davon aus, dass sie es selber nicht
verstanden hat und froh ist, wenn Dante einfach bestätigt ohne zu hinterfragen.
Als ein Gesicht erschien, das mir gebannt
Die Augen hielt, genau es zu erfassen
Dass mein Bekenntnis aus dem Sinn mir schwand
Von einem Bekenntnis (confession) spricht auch das italienische Original. Was
es genau ist, wissen wir nicht (auf jeden Fall sah er ein Gesicht im Mond, in
dem er sich auch selber befindet), das ihn hat vergessen lassen, was er sagen
wollte.
Wie uns in Gläsern, in durchsichtig-blassen,
In klaren Bächen, die so glatt und seicht
Dass sie den flachen Grund erkennen lassen,
Das Antlitz widerstrahlt, nur so gebleicht,
Dass man auf weißer Stirn die stumpfe Helle
Der Perle wohl erkennt nicht minderleicht -:
So sah ich wortbereit an dieser Stelle
Manch Antlitz, das den Gegenwahn mir weckte
Entflammter Liebe zwischen Mensch und Quelle.
Er sieht also etwas verschwommen ein Gesicht, soweit ist das schon mal klar.
Dass man manchmal in einem Fensterglas sich selbst sieht, wenn auch blass und
farblos, kennen wir auch. Auch im Wasser kann man sich sehen, allerdings höchst
selten. Mit der Tiefe allerdings hat das nichts zu tun, auch das Meer reflektiert
Licht, zum Beispiel die hellerleuchtete Silhouette einer Stadt. Wie er auf das
Bild mit der Perle kommt, ist schleierhaft bzw. nicht suggestiv. Selbst auf
der Haut von Schneewittchen (weiß wie Schnee, schwarz wie Ebenholz und
rot wie Blut) würde man eine Perle erkennen. Probleme bereitet dann die
letzte Terzine (So sah ich wortbereit…). Angespielt wird auf Narkissos,
der sich in sein Spiegelbild verliebte, das er in der Quelle sah. Erstaunlich
an der Sage ist im übrigens, dass von der Geschichte nur übriggeblieben
ist, dass er sich in sich selbst verliebt hat, was ja positiv ist und das Lebensgefühl
steigert, ein bisschen Selbstüberschätzung, die auch mal was wagt,
ist immer noch besser als ein Mauerblümchen. Aber eigentlich hat sich da
ein Mann in einen Mann verliebt, der Narkissos (ein Mann), hat sich in sein
Spiegelbild verliebt, das war aber auch ein Mann, naheliegenderweise. Was wir
bräuchten, ist ein Spiegel, der uns selbst zeigt, aber in das andere Geschlecht
verwandelt, das würde für Irritationen sorgen, puh. Auf jeden Fall
geschieht bei Dante das genaue Gegenteil von dem, was in der Geschichte passiert.
Die Zeile „das den Gegenwahn mir weckte“ ist so zu verstehen, dass
Narkissos ein Spiegelbild für real hält, während Dante ein reales
Bild für ein Spiegelbild hält. Fangen Sie nicht schon wieder an mit
dem Gejammere, sagen Sie jetzt nicht, dass das dahergeholt ist, lyrisch gesehen
wirkungslos. Hören Sie endlich mal mit dem Gejammer auf, vielleicht hat
Dante es ja nur gut gemeint.
Ich wandte mich, sobald ich sie entdeckte,
Zurück, da sie mir Spiegelbilder schienen,
Und wollte sehn, wo denn ihr Urbild steckte
Da er also die im Mond verborgenen Gestalten für Spiegelbilder hielt, drehte
er sich um und schaute nach dem Original. Eigentlich hätte das was werden
können mit den Spiegelbildern: hätte die etwas surreale Atmosphäre
der Landschaft beschreiben können. Es scheitert nicht unbedingt am Bild,
es scheitert an der sprachlichen Umsetzung dieses Bildes. Anstatt sich auf das
Bild einzulassen, legt Dante wieder ein Osterei, den Narkissos, auf den man
dann erstmal kommen muss. Ostereier suchen ist nicht poetisch, nicht suggestiv.
Er hätte was in der Art machen können:
im lichtdurchfluteter Umgebung voller Glanz
sah ich Gesichter ganz von blassen Farben
so wie das Glas zurückwirft unseren matten Schatten
Also kann man darüber nachdenken, was dieses Bild hergibt. Er hätte
natürlich auch noch psychologisch was anstellen können mit dem Spiegel,
das macht Goethe.
Was seh’ ich? Welch ein himmlisch Bild
Zeigt sich in diesem Zauberspiegel!
O Liebe, leihe mir den schnellsten deiner Flügel,
Und führe mich in ihr Gefild!
Ach, wenn ich nicht auf dieser Stelle bleibe,
Wenn ich es wage, nah zu gehn,
Kann ich sie nur als wie im Nebel sehn! –
Helena erscheint im Spiegel, doch je näher er herantritt, desto mehr verschwimmt
sie. Das ist vielleicht so, vielleicht ist das innigste Lächeln das der
Engel, denn das steigt nie herab zur Erde. Egal. Kleist hatten wir schon: wir
stimmen ihm zu, dass der Leser besonders begabt ist, der die unvollendete Schönheit
entdeckt. Die vollendete Schönheit entdecken kann jeder Trottel. Überstrapaziert
man diese These aber, dann ist ein Dichter nur noch eine Projektionsfläche,
die der begabte Leser leuchten lässt. Dann sind wir bald soweit, dass wir
gar keine Dichter mehr brauchen, so kann Kleist das nicht gemeint haben.
Doch sah ich nichts und blickte zu den Mienen
Und heilgen Augen meiner Führerin,
Und sah ein holdes Lächeln glühn in ihnen.
„Ich lächle über deinen Knabensinn“,
Sprach sie zu mir, „welch kindlicher Gedanke!
Nur taumelnd geht dein Fuß auf Wahrheit hin,
Auf dass er nach wie vor ins Leere wanke!
Wahrhafte Wesens sind‘ s! Ihr Schwur bewährte
Die Probe nicht, drum bannt sie diese Schranke.
Was wir von dem „Ich lächle über deinen Knabensinn“ zu
halten haben, wissen wir bereits, sie lächelt immer dann, wenn sie selber
nicht durchblickt. In der untersten Sphäre landen jetzt die, die einen
heiligen Schwur nicht halten konnten, wörtlich so. Wir haben im Paradies,
wie wir gleich sehen werden, Zustände, wie wir sie sonst nur in äußerst
archaischen Gesellschaften finden. Wird eine Frau vergewaltigt, dann ist es
gerecht, wenn sie bestraft wird, wie wir gleich erfahren werden.
Doch frage sie und glaube das Erklärte!
Das Licht, das sie beseelt, wird nie gestatten,
Dass sie abirren von der Wahrheit Fährte.“
Wir fühlen uns selten berufen, etwas zur Ehrenrettung des lieben Gottes
zu sagen, aber hier wird die Sache so grenzwertig, dass wir eher an einen technischen
Defekt im Paradies glauben. Das Licht / die Energie / die Kraft scheint ganz
offensichtlich nicht alles nach der göttlichen Vernunft auszurichten, denn
die Geschichte, die wir jetzt hören, ist so abwegig, dass wir eher davon
ausgehen, dass die, die jetzt spricht, psychiatrische Betreuung braucht. Eine
Frau, die vergewaltigt wurde und dann behauptet, dass die Strafe, die sie hierfür
erhielt, gerecht ist, hat offensichtlich einen Knacks.
Ich sprach den, der am meisten von den Schatten
Des Worts begierig mir erschien, rasch an,
Da mich auch schon geritzt die Dornen hatten.
Im Original:
E io a l'ombra che parea più vaga
di ragionar, drizza'mi, e cominciai,
quasi com'uom cui troppa voglia smaga:
Ich wandte mich zu dem Schatten der,
wie mir schien, am meisten begierig war zu sprechen,
fast wie ein Mensch, den zuviel Lust lässt schmelzen
Das wäre erstmal die wörtliche Übersetzung, das smaga interpretieren
italienische Kommentatoren als fa smarrire (schmelzen lassen), und die müssen
es wissen. Allerdings ist uns damit auch nicht wirklich geholfen, denn was für
eine Lust soll das sein, die einen schmelzen lässt. Wir haben noch zwei
Übersetzungen (beide interpretieren), die aber an dieser Stelle ebenfalls
gescheitert sind.
Gmelin:
Ich wandte mich zum Schatten, der am meisten
Begierig schien zu reden, und ich sagte
Wie einer, den zu starker Wunsch entkräftet
Falkenhausen
Zum Schemen wandt ich mich, der meist bedacht
Mit mir zu reden schien, um anzuheben
Wie wenn das Drängen wirr der Wünsche macht
Wir gehen jetzt einfach mal davon aus, dass jemand, der heiß auf etwas
ist, nicht mehr die Contenance bewahrt, sich also gehen lässt.
„Seligerschaffne Seele, die fortan
Bestrahlt des ewgen Lebens Lustentzücken,
Das nur, wer es genoss, ermessen kann,
Beliebe dir‘ s, mich huldreich zu beglücken
Mit deinem Namen und Geschick – o sprich.“
Ein Lächeln sah ich ihre Augen schmücken;
Also der Dante, der hat eine Kunstauffassung, da sind wir einfach nur sprachlos.
Von Kunst erwartet man in der Regel einen Brückenschlag in eine uns bis
dahin unbekannte Welt. Der Autor ist zum Beispiel der Meinung, das diese Zeilen
künstlerischen Wert haben:
Alle meine Entchen schwimmen auf dem See Köpfchen in das Wasser, Schwänzchen
in die Höh
Das meint der Autor jetzt ernst. Als Kind fand er das deprimierend, heute hat
er eine andere Sichtweise. Beschrieben wird eine Landschaft, die dem Menschen
unvermittelt gegenübersteht, keinerlei Emotionen auslöst. Selbst das
Gegenteil von Kunst, also die Nichtvermittlung, kann Kunst sein, wenn es eben
die Nichtvermittlung thematisiert. In der Pinakothek in München hängt
ja auch ein riesiges Bild eines Plattenbaus. Real, also in Marzahn / Berlin
oder sonstwo, erschlägt einen das. Es ist die steingewordene Nichtheimat,
das Fremde, Unvermittelte. In einem Museum, als Kunst, ist aber die Nichtheimat
vermittelt, die vermittelte Unvermitteltheit kann also Kunst sein. Man könnte
auch, das geht so in Richtung Dante, ein Bild in ein Museum hängen, zwei
auf vier Meter, in schwarzen leuchtenden Buchstaben:
DU VERSTEHST MICH NICHT
So neben andere Bilder, die man auch nicht versteht, das hätte was. Man
könnte auch, anstatt die Bilder aus dem Museum For Modern Art nach Berlin
zu schleppen, dreißig Bilder mit dem immer gleichen Schriftzug aufhängen.
DU VERSTEHST MICH NICHT
Und am Ausgang dann eines:
WARUM BIST DU GEKOMMEN?
Eine solche Ausstellung würde vielleicht die richtigen Fragen aufwerfen.
Das Vorgehen Dantes ist aber platter. Er teilt uns eiskalt mit:
Bestrahlt des ewgen Lebens Lustentzücken
Das nur, wer es genoss, ermessen kann
di vita etterna la dolcezza senti
che, non gustata, non s'intende mai
Hier fehlt der transzendierende Charakter. Was sollen wir mit der Information
anfangen, dass keine Brücke geschlagen wird? Was sollen wir mit der Information
anfangen, dass er uns mitteilt, dass das, was mitzuteilen wäre, nicht mitteilbar
ist?
Dort unten war ich eine von den Nonnen,
Und prüfst du mich genau, so wird dein Sinn -
Hält mich auch Glanz verschönend hier umsponnen -
Erinnern sich, dass ich Piccarda bin,
Die selig hier verweilt mit andern Frommen
Als dieses trägsten Sternes Bürgerin.
Wir wissen bekanntlich nicht, ob Dante, der ja zu Beginn den Pfad verlor des
rechtens Strebens und in Waldesnacht verirrt war, auf den rechten Pfad wieder
zurückgefunden, aber diese Szene lässt einen doch zweifeln. Piccarda
Donata war die Schwester von Corso Donati und Forese Donati, die Geschichte
hatten wir schon im 24. Gesang des Läuterungsberges. Piccarda war früh
in ein Kloster eingetreten und legte dort das Gelübde ab, dass sie nur
einen Bräutigam haben werde, Jesus Christus eben. Ihr Bruder Corso Donati
zwang sie aber aus dynastischen Gründen Rossellino della Tosa zu heiraten,
womit sie ihr Gelübde, nur den einen Bräutigam zu haben, brach. Und
weil sie, wenn auch unter Zwang, ihr Gelübde brach, landet sie nur im untersten
Kreis des Paradieses.
Nur in des Heilgen Geistes Luft erglommen
Sind unsre Herzen, weil er gnädig jetzt
In seine Harmonie uns aufgenommen.
Im Original:
Li nostri affetti, che solo infiammati
son nel piacer de lo Spirito Santo,
letizian del suo ordine formati.
Unsere Gefühle, die nur entflammt
für die Wünsche des heiligen Geistes,
erfreuen sich an der vom ihm erschaffenen Ordnung
Warum Dante hier von Spirito Santo und nicht von Gott, der Kraft, Tugend etc.
spricht, ist ein Rätsel.
Dies Los, von dir wohl niedrig angesetzt,
Ward uns beschieden, weil von uns auf Erden
Nachlässig ein Gelübde ward verletzt.“
Sie landet auf der untersten Sphäre des Paradieses, weil sie von ihrem
Bruder gewaltsam daran gehindert wurde, ihr Gelübde zu erfüllen.
Drauf ich: „Euch scheint in Antlitz und Gebärden,
Ich weiß nicht wie, was Göttliches zu brennen,
Das lässt euch gegen einst verwandelt werden,
So dass es mir erschwerte das Erkennen,
Bevor dein Wort zu Hilfe mir gekommen;
Jetzt muss ich wohlbekannt dein Bildnis nennen.
Bis hierhin also nichts Wichtiges. Dante raspelt ein bisschen Süßholz.
Dante stellt sich jetzt natürlich wie üblich Fragen, die sich keiner
stellt, bei denen aber anzunehmen ist, dass die Antworten enorm kompliziert
ausfallen.
Doch nun ihr seid zur Freude aufgenommen,
O sag: Sehnt ihr euch nicht nach höherem Ort,
Dort mehr zu wissen unter andern Frommen?“
Das Original:
Ma dimmi: voi che siete qui felici,
disiderate voi più alto loco
per più vedere e per più farvi amici?».
Doch sage mir: Ihr, die ihr hier so glücklich seid,
begehrt ihr nicht einen in höheren Sphären
um mehr zu schauen und mehr Freundschaft zu empfinden?
Das „per più vedere“ ist klar, je weiter oben, desto näher
bei Gott, desto glücklicher. Zoozmann hat da ein bisschen interpretiert,
von anderen Frommen steht im Original nichts. Was Dante also meint, ist unklar,
wahrscheinlich kann das nur der sagen, der den Unterschied zwischen LSD (untere
Sphären) und Heroin (weiter oben) kennt. Schwieriger ist das mit dem „per
più farvi amici“, das wäre wörtlich „um mehr Freundschaften
zu schließen“. Was das in diesem Kontext bedeuten soll, ist etwas
unklar. Sie fragen sich jetzt wahrscheinlich schon die ganze Zeit, wie es da
aussieht, im Paradies, vielleicht so wie bei den Beatles, „Lucy in the
sky with diamonds“.
HIER
Dauert eine Weile, aber dann kommt eine Landschaft, das könnte hinhauen.
Aus “Lucy in the sky with diamonds” müssen Sie nur “Beatrice
in the sky with diamonds” machen, dann passt das. Oder haben Sie sich
schon mal mit Leuten, die speed nehmen über ihre Erfahrungen unterhalten?
Die erzählen dann auch so komische Sachen von Erlebnissen mit Licht. Wir
wissen natürlich nicht, welchen Pilz Dante gefunden hat, und der Autor
kann Ihnen auf der Strecke auch nicht weiterhelfen. Jeder Mediziner bestreitet
das, aber bei dem Autor wirkt das Kraut einfach nicht und generell hält
sich sein Interesse an Bewußtseinserweiterung durchaus in Grenzen. Hat
er was verpasst? Also wenn Dante einen Trip beschreibt, dann würde der
Autor sagen, da gibt es Besseres.
Erst lächelte sie samt den Geistern dort
Und fuhr dann freudig – als ob sie durchglühte
Die Ursprungsliebe – mich zu lehren fort:
Die Ursprungsliebe ist die, die von Gott selber stammt. Wie man sich fühlt,
wenn man von dieser Ursprungsliebe (d'amor nel primo foco) durchglüht ist,
ist dem Autor völlig unklar, vielleicht so ähnlich wie die Leute,
die ganz ergriffen sind, wenn der Papst mit seinem Papamobil vorüberfährt.
Sollten diese einen Erfahrungsbericht haben, würde sich der Autor über
eine Nachricht freuen, infos@infos24.de
.
„Hier, Bruder, gibt der Liebe Kraft und Güte
Mit eigenem Besitz Zufriedenheit -
Und nach nichts anderm dürstet das Gemüte.
Wenn wir ersehnten größre Herrlichkeit,
So würde unser Wunsch zuwidergehen
Dem Willen des, der uns hier eingereiht,
Was nicht in diesen Welten kann geschehen,
Wenn Liebe hier das Band ist des Vereins,
Und du ihr Wesen prüfst, sie zu verstehen.
Wir erreichen jetzt die Metaebene. Piccarda weiß ja auch nicht, wie man
sich auf einer höheren Sphäre fühlt, sowenig wie wir wissen,
wie sie sich fühlt. Um sich aber nach der nächst höheren Sphäre
zu sehnen, müsste man wissen, was man verpasst, wenn man da nicht ist.
Um sich nach etwas zu sehnen, muss man wissen, was man vermisst. Die Durchschnittssehnsucht
kann durch die Phantasie entstehen, vermissen tun wir ja alle irgendwas, 100
Meter Kraul in 1 Minute schwimmen, Klavier spielen können, 10 Fremdsprachen
sprechen, 10 000 Euro im Monat verdienen etc. etc. Mag auch sein, dass intelligentere
/ sensiblere Zeitgenossen schärfer wahrnehmen, was alles fehlt. Diese Sehnsüchte
entstehen aber aus der Realität heraus. Dass man sich nach etwas sehnt,
das man gar nicht, also nicht mal ansatzweise kennt, hält der Autor schlicht
für undenkbar. Wenn sich Piccarda also nicht nach einem Platz in den oberen
Stockwerken sehnt, dann wäre es plausibler anzunehmen, dass sie dies nicht
tut, weil sie überhaupt keine Vorstellung hat, was sie verpasst. Die Begründung,
die sie gibt, dass sie keine Sehnsucht verspürt, weil sie von der Gottesliebe
durchdrungen ist, hält der Autor für wenig plausibel. Die andere Erklärung
ist viel naheliegender: sie sehnt sich nicht nach etwas (vermisst gar nichts),
weil sie es nicht kennt.
Denn das gehört zur Form des Seligseins:
In Gottes Willen halten sich und fügen,
Dass unser Wille schmilzt mit ihm in eins!
Darüber wird in einer Interpretation des Gesamtwerkes noch zu reden sein.
Bei Goethes Faust (im Vergleich dieser beiden Werke, der Divina Commedia und
Goethes Faust, lässt sich der Abstand zwischen Mittelalter und Neuzeit
ermessen) geht es darum, eine Welt zu finden, die einem hochkomplexen Individuum
gerecht wird, wobei sich das Individuum selbst erst im Prozess erkennt und den
utopischen Horizont verändert. Im Fluss ist also beides, sowohl das Individuum,
wie auch der utopische Horizont. Bei Dante geht es lediglich darum, dass sich
das Individuum an einen gegebenen utopischen Horizont anpasst. Radikal anders
ist dann auch das Gottesbild. Bei Goethe ist Gott der Meinung, dass Faust sein
Knecht ist:
Fürwahr! er dient Euch auf besondre Weise.
Nicht irdisch ist des Toren Trank noch Speise.
Ihn treibt die Gärung in die Ferne,
Er ist sich seiner Tollheit halb bewußt;
Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne
Und von der Erde jede höchste Lust,
Und alle Näh und alle Ferne
Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.
Das sagt Mephistopheles. Worauf Gott ihm antwortet:
Wenn er mir auch nur verworren dient,
So werd ich ihn bald in die Klarheit führen.
Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt,
Das Blüt und Frucht die künftigen Jahre zieren.
Gott will also den suchenden Menschen, der den utopischen Horizont erweitert.
Dieser Gott redet auch nicht von Bestrafung, er geht davon aus, dass der Mensch
an sich gut ist, was die Bestrafung überflüssig macht.
Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab,
Und führ ihn, kannst du ihn erfassen,
Auf deinem Wege mit herab,
Und steh beschämt, wenn du bekennen mußt:
Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange,
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt.
Dass Goethe die Divina Commedia ablehnte, ist also nicht nur dadurch bedingt,
dass er sie ästhetisch ablehnte. Die Divina Commedia steht den Auffassungen
Goethes diametral entgegen. Die Wette zwischen Mephistopheles und Faust geht
um die Frage, ob es diesem gelingen wird, ihn zu lähmen, zu akzeptieren,
dass der utopische Horizont nicht erweitert werden kann. Faust hat ja Phasen,
wo er wie gelähmt erscheint:
Wenn Phantasie sich sonst mit kühnem Flug
Und hoffnungsvoll zum Ewigen erweitert,
So ist ein kleiner Raum ihr nun genug,
Wenn Glück auf Glück im Zeitenstrudel scheitert.
Das beschreibt das Scheitern. Dann hätte Gott die Wette verloren. Der Gott
Dantes will, dass die Wahrheit gefunden wird, der Gott Goethes will, dass sie
gesucht wird, und zwar bis in alle Ewigkeit.
Der Gott Dantes gibt Antworten, der Gott Goethes will, dass Fragen gestellt
werden. Mit Leuten, die Fragen stellten, gab es noch nie Probleme, aber die
Menschen, die Antworten geben, scheinen das Problem der Menschheit zu sein.
Drum lässt man hier sich seines Rangs genügen,
Der jeden andern auch erfreut wie Ihn,
Der uns mit seinem Wunsch weiß zu vergnügen.
Im Original:
sì che, come noi sem di soglia in soglia
per questo regno, a tutto il regno piace
com'a lo re che 'n suo voler ne 'nvoglia .
So dass, weil wir doch Stufe auf Stufe stehen
in diesem Reich, ganz so, wie es dem Reich gefällt,
wie jene, die ganz des Königs Willen folgen
Im Paradies ist man also glücklich, wenn der eigene Wille mit dem Willen
Gottes übereinstimmt. In Anbetracht der Tatsache aber, dass man, so wie
Dante das beschreibt, überhaupt keine Alternative hat, bleibt einem wohl
auch nicht viel anderes übrig, als aus der Not eine Tugend zu machen. Wer
nämlich einen Willen hat, der mit dem Gottes nicht übereinstimmt,
der landet wohl ein oder zwei Stockwerke weiter unten.
Sein Wille ward zum Frieden uns verliehn,
Er ist das Meer, zum dem in mächtgen Schwall
Naturprodukt und Gotterschaffne ziehn.“
Im Original:
E 'n la sua volontade è nostra pace:
ell'è quel mare al qual tutto si move
ciò ch'ella cria o che natura face».
In seinem Willen ist unser Frieden:
er ist das Meer zu dem sich alles hinbewegt,
sowohl das was er, wie auch das was Natur erschaffen
Die erste Zeile, „in seinem Willen ist unser Frieden“, ist die gleiche
Liga wie die Terzine oben. So wie Dante das alles präsentiert, bleibt wohl
nichts anderes übrig. Die nächsten zwei Zeilen kann man so sehen,
man kann es aber auch lassen. Es ist begrifflich alles so unscharf, dass man
nichts damit anfangen kann.
Da ward mir klar: im Himmel überall
Ist Paradies, strömt auch der Gnadenregen
Auf alle nicht in gleichem Tropfenfall.
Woraus ihm das klar geworden ist, ist dem Autor zwar ein Rätsel, wahrscheinlich
hat er das dem entnommen, was Piccarda weiter oben sagte (Bruder, gibt der Liebe
Kraft und Güte…). Selbst wenn wir akzeptieren, dass Dante über
das himmlische Vakuum schreibt, wenn wir akzeptieren, dass Lyrik nicht seine
Welt war, wenn wir akzeptieren, dass er nicht, was naheliegend wäre, utopische
Momente ins Jenseits verlängert, müssen wir konstatieren, dass seine
Beschreibung des Paradieses erbärmlich ist, sie liest sich in etwa so,
wie ein Fachbuch zum Steuerrecht, allerdings bei geringerem Nutzwert. Wer Dante
gut findet, kennt Literatur wohl nur als Ostereiersuche. Das wiederum trauen
wir den verbeamteten Geistlichen ohne weiteres zu. Als Thermomenter für
den Zustand der Geisteswissenschaften eignet sich Dante hervorragend.
Wir wir uns oft nach einer Speise pflegen,
Die uns gesättigt, anderer zuzuwenden,
Dankend zugleich und bittend beiderwegen,
So ließ ich merken, als ich sie sah enden
Dass ich gern mehr gesehn von den Geweben,
Die sie nicht ihre Spule ließ vollenden.
Im Original:
Ma sì com'elli avvien, s'un cibo sazia
e d'un altro rimane ancor la gola,
che quel si chere e di quel si ringrazia,
così fec'io con atto e con parola,
per apprender da lei qual fu la tela
onde non trasse infino a co la spuola.
Doch wie es vorkommt, wenn eine Speise sättigt
und schon Lust besteht eine andere zu kosten
während man für die eine dankt und die andere begehrt
so handelte auch ich in Wort und Taten,
um von ihr zu erfahren, warum sie das Gelübde
Nicht bis zur Vollkommenheit erfüllte
Soll heißen, einiges hat er schon erfahren, aber das was er erfahren hatte,
steigerte seinen Wunsch, noch mehr zu erfahren, in diesem Falle also wollte
er wissen, warum sie ihr Gelübde brach. Das erfahren wir jetzt -
„Es hob Verdient und hochvollkommnes Leben
Ein Weib zum Himmel, deren Norm und Lehren
In eurer Welt noch Kleid und Schleier geben,
Das Weib ist Santa Chiara d' Assisi (1194 - 1253), eine Anhängerin des
Franz von Assisi. Diese gründete den Klarissenorden. Piccarda trat also
in den Klarissenorden ein. Der geringe wirtschaftliche Sachverstand des Franz
von Assisi führte dann dazu, dass Armut zur Tugend erhoben wurde und auch
bei den Klarissenen Armut hoch im Kurs stand. Das ist a) wirtschaftlich kontraproduktiv
und b) auch nicht schwer. Bettelarm zu sein, schaffen eine Menge Leute, ohne
sich anzustrengen. Die Antwort auf die Frage, was daran gut sein soll, hat Franz
von Assisi mit ins Grab genommen. Wesentlich schwieriger ist es auf jeden Fall,
die Armut zu bekämpfen.
Um Tag und Nacht dem Bräutigam sich, dem hehren,
Zu weihn, dem ein Gelübde stets gefällt,
Ist‘ s gottgefällig und zu seinen Ehren.
Also die Nonnen sind ja mit Jesus verheiratet, das sagt man so. Obwohl der Autor
noch nie gehört hat, dass die Mönche mit Maria verheiratet sind.
Früh war der Welt Getriebe mir vergällt,
Jung trat ich in den Orden im Bestreben,
Zu wandeln, wie es sein Gesetz enthält.
Sie verstehen jetzt nicht, was das bedeutet. Das können Sie hier
nachlesen. Wenn Sie es einfacher haben wollen, dann räumen Sie eine
Bank aus und lassen sich erwischen. Es gibt schnellere und einfachere Wege,
ins Gefängnis zu kommen.
Da rissen Männer, Bösem mehr ergeben
Als Gutem, mich aus meiner stillen Zelle -
Gott weiß: wie dann gestaltet sich mein Leben!
Ob es Gott weiß, wissen wir nicht, aber es würde uns natürlich
interessieren, weniger aus Voyeurismus, sondern weil es uns interessieren würde,
was im Mittelalter eigentlich abging. Die Männer, die sie herausrissen
aus ihrer Zelle war ja, so die Überlieferung, lediglich einer, ihr Bruder
Corso Donato, der sie mit einem Florentiner verkuppelte, über den wir auch
nichts wissen.
Die hier zu meiner Rechten glänzt in Helle,
Die Lichtgestalt, in der so hell entbronnen
Der ganzen Sphäre reinste Strahlenquelle,
Ihr ward wie mir das gleiche angesonnen:
Auch sie war Schwester, auch von ihrem Haupt
Riss man den heilgen Schleierschmuck der Nonnen.
Im Original:
E quest'altro splendor che ti si mostra
da la mia destra parte e che s'accende
di tutto il lume de la spera nostra,
ciò ch'io dico di me, di sé intende;
sorella fu, e così le fu tolta
di capo l'ombra de le sacre bende.
Und jener andere Glanz, der sich dir zeigt
zu meiner Rechten und der sich entzündet
Mit dem ganzen Licht das durchstrahlt unsere Sphäre
was ich von mir dir tue kund, geschah auch ihr,
Nonne war sie, und gleichermaßen wurde ihr entrissen
Vom Kopf der Schatten des heiligen Schleiers
Gemeint ist Kaiserin Konstanze von Sizilien (siehe unten). Es gibt ein Gerücht,
dass sie vor ihrer Heirat mit Heinrich VI, dem Vater von Friedrich II, Nonne
gewesen war und somit das Gelübde durch eben diese Heirat gebrochen habe.
Allerdings ist das historisch weitgehend unbewiesen.
Das ist der Himmelsglanz Konstanzias,
Der großen! die vom Schwabenwind,
dem zweiten, Des dritten und des mächtigsten genas.“
So sprach Piccardia, sang im Weiterschreiten
Ave Maria und entschwand mir singend,
Wie Steine schnell zum Grund des Wassers gleiten.
Der erste Sturm war Friedrich I, also Barbarossa, der zweite Heinricht VI, dessen
Sohn und die dritte schwäbische Welle, die aus dieser erzeugt wurde Friedrich
II.
Mein Auge folgte ihr, den Glanz durchdringend,
Soweit es ging, bis sie mir schwand im Flug,
Drauf mich, zum höhern Sehnsuchtsziel sich schwingend,
Zu Beatricen trieb des Herzens Zug;
Doch blitzte sie so hell mir in die Augen
Dass ich zuerst den Anblick nicht ertrug-
Da mochte nicht die Zeit zum Fragen taugen.
Im Original:
La vista mia, che tanto lei seguio
quanto possibil fu, poi che la perse,
volsesi al segno di maggior disio,
e a Beatrice tutta si converse;
ma quella folgorò nel mio sguardo
sì che da prima il viso non sofferse;
e ciò mi fece a dimandar più tardo.
Mein Blick, der solange ihr folgte
Wie dies möglich, und dann, als sie ward verloren
sich richtete dem Zeichen größerer Sehnsucht,
sich ganz Beatrice zuwandte
sie aber blitzte in meinem Blick
so das meine Augen es nicht ertrugen
und mich zögern ließ, weiter zu fragen
Die Frage, die Dante in seiner tiefbewegten Brust trägt ist jetzt, ob man
beim gewaltsamen Bruch eines Gelübdes eine Sünde begeht. Wir wissen
bereits, dass die falschen Fragen zu ziemlich verdrehten Antworten führen,
wie der vierte Gesang dann auch schlagend beweist.
Wir haben also erfahren, dass in der ersten Sphäre des Paradieses die Seligen
im (!) Mond als Lichtgestalten leben und von dem göttlichen Licht, soweit
es denn bis zum Mond durchscheint, vollkommen durchtränkt sind. Da im Paradies
alle in Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen leben, strebt auch
niemand danach, aufzusteigen. Dante setzt also seine Grundaussage, dass man
aus dem Paradies nur in Gleichnissen berichten kann, gnadenlos um, denn es ist
vollkommen zutreffend, dass weiterhin völlig unklar bleibt, was am Paradies
so toll ist und wieso man da so glücklich sein soll. Es kann ja schon sein,
dass es ganz lustig ist, ab und an ins Solarium zu gehen, aber die Seeligen
im Paradies leben dort bis in alle Ewigkeit und tun offensichtlich den lieben
langen Tag gar nichts. Wir dürfen also gespannt sein, was in den höheren
Sphären abgeht.