Indem wir, einer hinterm andern gingen
Sprach warnend dann und wann mein treu Geleite:
„Merk auf! Lass meinen Rat dir Nutzen bringen!“

Hm. Das gibt uns, in Anbetracht der Tatsache, dass Vergil jetzt in dem ganzen 26. Gesang oder 26. Wortgeklimper keinen Piep sagt, echt zu denken. Man stelle sich mal vor, man geht mit jemanden in der Stadt spazieren und dieser jemand sagt kein Wort außer ständig „Merk auf! Lass meinen Rat dir Nutzen bringen!“ Was würden wir tun? Würden wir versuchen, ohne ihn zu kränken, ihn davon zu überzeugen, dass er sich in psychiatrische Behandlung begibt? Merk jetzt auf Leser, auf dass das Lesen dir Nutzen bringe.

Die Sonne traf mir voll die rechte Seite
Und wandelte zum Silberozean
Das tiefe Blau der abendlichen Weite

Also das ist nicht so voll gut übersetzt, der Stil ist nicht voll gut, aber das ist egal, denn das Bild verstehen wir nicht. Die Sonne trifft ihn voll auf die rechte Seite, volle Kanne. Was können wir daraus schließen? Die überraschende Antwort ist nichts, rein gar nichts. Er wandelt auf der siebten Terrasse unter den Wollüstigen, diese ist aber rund und wir wissen nicht, wo er ist. Die Sonne kann also überall stehen und von rechts kommen. Zoozmann hat dann noch den Silberozean in kongenialer Weise dazu gedichtet, im Original ist er nicht vorhanden.

feriami il sole in su l'omero destro,
che già, raggiando, tutto l'occidente
mutava in bianco aspetto di cilestro;

Die Sonne traf mich auf die rechte Schulter
überstrahlend die gesamte westliche Hemisphäre
ließ weiß erstrahlen den gesamten Himmel

Nun haben wir zwar eine westliche Hemisphäre, aber da uns absolut unklar ist, wie die Sonne es schafft, den Himmel weiß werden zu lassen und ob sie hierzu im Osten oder Westen stehen muss, sind wir keinen Schritt weiter. Der Autor hat noch nie beobachtet, dass die Sonne den Himmel blasser, weißer oder was auch immer macht. Er wird aber in Zukunft mal darauf achten, ob sich die Intensität des Blaus des Himmels im Tagesverlauf ändert.

Doch dunkelroter brannte auf die Bahn
Das Licht durch meinen Schatten, dass viele Seelen
Dies Wunder staunend im Vorbeigehn sahen

Die Verse sind wieder weitgehend sinnfrei. Das italienische Original sieht so aus.

e io facea con l'ombra più rovente
parer la fiamma; e pur a tanto indizio
vidi molt'ombre, andando, poner mente.

Und ich ließ mit dem Schatten noch glühender
Erscheinen die Flamme und ich sah wie bei diesem Zeichen
viele wandelnde Schatten, erstaunten

Gemeint ist wahrscheinlich, dass die Flammen, die aus dem Läuterungsberg schlagen, dunkler erschienen, als der Schatten Dantes sie bedeckte. Das ist rein theoretisch wohl möglich, alles, worauf ein Schatten fällt, ist ja dunkler. Ob dieser Effekt allerdings auch dann wahrnehmbar ist, wenn der Schatten auf eine Lichtquelle fällt, würde der Autor erstmal bestreiten.

Und diese alle sind gleich mir nicht minder
Begierig deiner Antwort, als im Brand
Der Wüste lechzt nach kühlem Quell der Inder

Das ist wieder so unser Thema, Dante und seine Vergleiche. Schief ist dieser Vergleich natürlich schon deswegen, weil Indien gar keine Wüste hat, was Dante, dies sei konzediert, nicht wissen konnte. Aber davon unabhängig, ist der Vergleich auch nicht suggestiv. Man kann zwar nach Wahrheit und Erkenntnis dürsten, schief wäre es aber, wenn jemand sagen würde, dass er etwas so dringlich wissen will, wie der durch die Wüste Sahara wandernde Beduine nach Wasser dürstet.

„Sodom! Gomorra!“ schrie der eine Haufe,
Der andre „Kuh ward Pasiphae,
Dass ihrer Geilheit Trug den Stier erkaufe!“

Ähnlich wie in den vorherigen Kreisen, führen sich die Büßenden Geschichten vor Augen, die geeignet sind, eine Katharsis hervorzurufen, also eine Reinigung von dieser Sünde.

Die Geschichte von Sodom und Gomorra ist beschrieben in der Bibel, Genesis 18 / 19. Gott ist zu Ohren gekommen, dass in Sodom und Gomorra die Sünden schwer sind (so steht das wörtlich in der Bibel). Gott macht sich also in Begleitung von Abraham auf, um festzustellen, ob das stimmt. Abraham kündigt er an, dass er Sodom und Gomorra auslöschen wird, wenn die Vorwürfe zutreffen. Abraham wendet ein, dass man doch nicht alle auslöschen könne, die Gerechten mit den Ungerechten. Nach einer längeren Diskussion einigen sich Abraham und Gott darauf, dass Sodom verschont bleibt, wenn sich nur zehn Gerechte, soll heißen, ohne Sünde, darin befänden. An Sodom scheint Abraham besonders interessiert, Gomorra scheint ihm egal zu sein, denn in Sodom wohnt Lot, ein Neffe Abrahams, mit seiner Familie. Zwei Engel machen sich auf nach Sodom und besuchen Lot, bzw. sie treffen ihn vor dem Tor sitzend an und Lot lädt sie ein, bei ihm zu nächtigen. Das wiederum erfahren die anderen Einwohner von Sodom, die zum Hause Lots eilen und ihn auffordern, die Fremden herauszugeben. Lot bietet ihnen darauf hin an, seine Töchter herauszugeben, mit denen könnten sie dann machen, was sie wollen und die Fremden sollen sie verschonen. Das mit den Töchtern scheint in der Bibel völlig in Ordnung zu gehen, denn es wird weder weiter kommentiert noch bewertet. Die Angreifer lehnen aber das Angebot ab und es kommt zu Handgreiflichkeiten. Die zwei Engel schlagen die Angreifer mit Blindheit und ziehen sich mit Lot ins Haus zurück. Die Engel fordern ihn auf, Sodom zu verlassen, da sie am nächsten Tag "die Stätte verderben" werden. Seine Schwiegersöhne solle er ebenfalls warnen. Diese aber finden das lächerlich und verlassen Sodom nicht. Die Engel lassen Schwefel und Feuer vom Himmel regnen und vernichten Sodom und Gomorra. Seine Frau allerdings tat nicht, wie von den Engeln befohlen. Auf der Flucht schaute sie rückwärts und erstarrte zur Salzsäule.

(Der eigentlich Hammer ist aber die dann folgende Geschichte (Lot und seine Töchter)

Und Lot zog aus Zoar und blieb auf dem Berge mit seinen beiden Töchtern; denn er fürchtete sich, zu Zoar zu bleiben; und blieb also in einer Höhle mit seinen beiden Töchtern. Da sprach die ältere zu der jüngeren: Unser Vater ist alt, und ist kein Mann mehr auf Erden der zu uns eingehen möge nach aller Welt Weise; so komm, laß uns unserm Vater Wein zu trinken geben und bei ihm schlafen, daß wir Samen von unserm Vater erhalten. Also gaben sie ihrem Vater Wein zu trinken in derselben Nacht. Und die erste ging hinein und legte sich zu ihrem Vater; und der ward's nicht gewahr, da sie sich legte noch da sie aufstand. Des Morgens sprach die ältere zu der jüngeren: Siehe, ich habe gestern bei meinem Vater gelegen. Laß uns ihm diese Nacht auch Wein zu trinken geben, daß du hineingehst und legst dich zu ihm, daß wir Samen von unserm Vater erhalten. Also gaben sie ihrem Vater die Nacht auch Wein zu trinken. Und die jüngere machte sich auf und legte sich zu ihm; und er ward's nicht gewahr, da sie sich legte noch da sie aufstand. Also wurden beide Töchter Lots schwanger von ihrem Vater. Und die ältere gebar einen Sohn, den nannte sie Moab. Von dem kommen her die Moabiter bis auf den heutigen Tag. Und die jüngere gebar auch einen Sohn, den hieß sie das Kind Ammi. Von dem kommen die Kinder Ammons bis auf den heutigen Tag.

Das heißt, der Lot schläft mit seinen Töchtern und merkt es nicht mal ???? Man könnte daraus schließen, dass der Autor der Bibel ein Eunuch war, dem durchaus unklar war, wie das alles funktioniert.)

Festzuhalten bleibt, dass sich in der Bibel selbst überhaupt kein Anhaltspunkt dafür finden lässt, dass Sodom und Gomorra platt gemacht wurden, weil die Einwohner besonders wollüstig waren. In der Bibel heißt es schlicht „und der HERR sprach: Es ist ein Geschrei zu Sodom und Gomorra, das ist groß, und ihre Sünden sind sehr schwer“.

Gelegentlich wirft man ja den Typen vor, dass sie immer nur an das eine denken. Dies scheint aber noch viel mehr für den christlichen Glauben zu gelten, der sieht überall Wollust, selbst da, wo überhaupt keine ist. Würde man das psychologisch deuten, dann würde man von Projektion sprechen. Die eigenen Gelüste, gegen die ja rein logisch gesehen nichts einzuwenden ist, werden auf alle möglichen Objekte projeziert. Dante scheint aber einer Tradition zu folgen, die in Sodom und Gomorra das Sinnbild der Sünde sieht, wie immer diese Tradition auch zustande gekommen sein mag.

Mit der Kuh der Pasiphae wird auf Pasiphae angespielt, Gattin von Minos, dem König von Kreta. Die Geschichte hatten wir schon, aber wir wissen ja, das mit den Griechen und ihren Göttern, Halbgöttern, Nymphen, Titanen etc. etc. das muss man üben, üben, üben. Minos bat Poseidon ihm einen herrlichen Stier zu schenken, denn er opfern wollte. Poseidon tut, was gewünscht. Minos allerdings findet das Vieh derart schön, dass er es nicht opfert, was wiederum Poseidon erzürnt. Der rächt sich indem er dessen Gattin, also Pasiphae, in Liebe zu diesem Stier entbrennen lässt (wir sehen also, dass Dante seine Beispiele für Wollust geschickt wählt, denn die Geschichte ist ja wie aus dem Leben gegriffen). Die wiederum will sich nun mit dem Stier vereinigen und lässt Daedalus ein Gerüst in Kuhform bauen in dem sie sich versteckt und so mit dem Stier zu schlafen. Was jeden Molekularbiologen jetzt vom Hocker haut, hier gelingt es, sie wird schwanger von dem Stier und gebiert den Minotaurus. Den wiederum will Minos sofort umbringen, aber seine Tochter Ariadne bittet, ihn am Leben zu erhalten (der Autor hätte das Vieh für gutes Geld an MacDonalds verscherbelt, die hätten dann einen Werbeslogan draus gemacht: Saftiges griechisch - göttliches Hack). Daraufhin wird er in ein Labyrinth gesperrt, aus dem ihn Herakles befreit. Nun hopst der Stier durch den Peloponnes, wo er natürlich nur Ärger macht. Er tötet Androgeos, einen Sohn des Minos. Da das in der Nähe von Athen geschieht, macht Minos Athen dafür verantwortlich und führt mit Hilfe des Zeus, seines Vaters, Krieg gegen Athen. Um Minos nun wiederum zu besänftigen, muss Athen alle neun Jahre sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen nach Kreta schicken, wo sie dem inzwischen wieder eingefangenen und im Labyrinth versteckten Minotaurus geopfert werden. Unter der dritten Sendung von Jungfrauen und Jünglingen ist Theseus. Der säbelt dem Minotaurus die Rübe runter und dann ist erstmal Ruh. Die ganze Geschichte tönt im übrigen schwer nach Männerphantasie, stiermäßiger Phallus und so. Huuh.

Wie Kraniche teils zum Riphäer Schnee
Teils nach der Wüste flüchten, weil die einen
Die Wärme fliehn, die anderen Wintersweh

Das ist auch a bisserl frei.

Poi, come grue ch'a le montagen Rife
volasser parte, e parte inver' l'arene,
queste del gel, quelle del sole schife,

Und wie die Kraniche teils zum Rifgebirge
teils in die Wüste fliegen die einen
Das Eis, die anderen die Sonne flüchtend

Das Rifgebirge wird von antiken Autoren öfter genannt, allerdings nie genau geographisch verortet. Es soll irgendwo im nördlichen Europa liegen. Manche Autoren meinen, es handle sich um den Ural, was der Autor eher bezweifeln würde, denn der liegt sehr weit im Norden, war in der Antike nicht bekannt.

Die uns verließen, sündigten darin
Wofür man im Triumph, wie‘ s sichs gebührte
Dem Cäsar spöttisch zurief: „Königin“

Angespielt wird auf ein von dem Geschichtsschreiber Sueton behauptetes homoerotisches Verhältnis zwischen Nikomedes von Bithynien und Julius Cäsar. Nikomedes IV war von den Römern eingesetzt worden, damit er eine Flotte zur Verfügung stellte, die Rom für eine Auseinandersetzung mit Mytilene auf Lesbos benötigte. Als er dies nur zögerlich tat, wurde Cäsar entsandt,um den Vorgang zu beschleunigen. In Rom entstanden Gerüchte, dass Cäsar eine homoerotische Beziehung mit Nikomedes hatte, Cäsar wurde als "königliche Mätresse" bezeichnet oder auch als Königin, er wäre ja sozusagen die Gattin des Nikomedes gewesen und damit die Königin. Inwieweit der Bericht stimmt, dass die Legionen beim Triumphzug gesungen haben

Caesar unterwarf ganz Gallien
Nikomedes Caesar einst
Sieh, Triumphzug feiert Caesar
der ganz Gallien unterwarf
Nikomedes triumphiert nicht
der den Caesar unterwarf

ist unklar.

Wir aber büßen als Hermaphroditen
Unmaß hat uns zur Tiernatur erniedrigt
Missachtend, was Moral und Recht gebieten

Das ist jetzt natürlich merkwürdig. Betrachten wir erstmal das italienische Original.

Nostro peccato fu ermafrodito;
ma perché non servammo umana legge,
seguendo come bestie l'appetito,

Wir büßen weil Hermaphroditen waren
weil wir nicht den menschlichen Gesetzen dienten
sondern folgten unserer Lust ganz wie die Tiere

Bezogen auf den Menschen (oder eben andere Säugetiere) versteht man unter einem Hermaphrodit eine Person, die sowohl weibliche wie auch männliche Geschlechtsmerkmale zeigt (bei Pflanzen ist es anders, dort bezeichnet Hermaphroditismus das Phänomen, dass manche Pflanzen sowohl männliche wie auch weibliche Keimzellen ausbilden). Mit einer sexuellen Orientierung hat das aber gar nichts zu tun, ein Hermaphrodit ist nicht notwendigerweise auch bisexuell. Bei Dante scheint der Hermaphrodit aber genau das zu sein. Er verwechselt Hermaphroditismus mit Bisexualität, wobei letztere natürlich gar nicht geht, findet Dante.

Drum müssen wir beim Abschied, angewidert
Von eigener Schmach, des Weibes Namen künden,
Das sich vervieht, von Viehgestalt umgliedert

Gemeint ist Pasiphae. Die hat sich ja „vervieht“, weil sie in das Kuhgerüst gestiegen ist, war von einem Vieh umgeben. Deren Namen rufen sich also die Büßenden zu, wenn sie sich verabschieden.

Ich selber, wenn du danach zeigst Begier
Bin Guinicelli und, weil ich bereute
Vorm Tode, läutre ich bereits mich hier

Um zu erklären, warum alle totalitären Ideologien, also Kommunismus, Christentum, Islam, Faschismus, Stalinismus, Maoismus etc. etc. derartig Probleme mit der Lust haben, insbesondere mit der Lust, die kreuz und quer geht, müsste man wohl ganz weit ausholen. Ein Element dürfte sein, dass Leute, die einfach nur Spaß haben wollen, schwerer zu manipulieren sind. Wer sein Glück in seiner unmittelbaren Umgebung findet, wird sich für höchst abstrakte Heilsversprechungen und Hokuspokus wohl kaum begeistern. Wer eine Vorstellung von Glück hat, ist schwer zu manipulieren. Einen größeren Hammer nimmt Adorno aus der Werkzeugkiste. Er sieht Rationalität als Zurichtung des Subjektes auf die Welt. Das Subjekt richtet sich so zu, dass es selbst Instrument zur Durchsetzung von Zielen wird. Damit ist aber das Subjekt, was logisch wäre, nicht mehr das Maß aller Dinge, sondern ganz im Gegenteil, es wird abgeschafft, ist nur noch lustloses, neutralisiertes Instrument in einer durchrationalisierten Welt.

„Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjektes, in dessen Dienst sie geschieht, die beherrschte, unterdrückte Natur und durch Selbsterhaltung aufgelöste Substanz ist gar nichts anderes als das Lebendige, als dessen Funktion die Selbsterhaltung einzig sich bestimmen, eigentlich das, was erhalten werden soll.“

Theodor W. Adorno, Odysseus oder Mythos und Aufklärung

Ich selber, wenn du danach zeigst Begier
Bin Guinicelli und weil ich bereute
Vorm Tode, läutre ich bereits mich hier

Über Guido Guinizelli ist fast nichts bekannt. Geboren wurde er um 1230 in Bologna und er starb um 1276 in Monselice (Norditalien). Er entstammt einre ghibellinischen Familie und zeitweise gehörte er den fratres gaudentes an. Er gilt als der Begründer des dolce stile novo, einer Richtung innerhalb der italienischen Lyrik des 13. Jahrhundert, der auch Dante angehört. Worin sich seine besondere Wollust begründet, ist nicht überliefert. Möglich, dass es für Dante reicht, dass er den fratres gaudentes angehört, einem Mönchorden, der nicht zur Enthaltsamkeit und zu einem Leben in der klösterlichen Gemeinschaft verpflichtet war, um ihn als wollüstig zu beschreiben.

Wie jene Mutter, als dem Gram zur Beute
Lykurgus fiel, den Söhnen freudig tat,
hätt ich‘ s gemacht, wenn ich die Glut nicht scheute

Der Vers ist natürlich vollkommen unverständlich, das ist von Dante so gewollt, denn Dante ist der Erfinder des Kreuzworträtsels. Gesucht wird also eine Mutter, die von ihren Söhnen freudig begrüsst wurde, als ein gewisser Lykurgus gramgebeugt war. Mit der Mutter, die von ihren Söhnen freudig begrüsst wird, kommen wir natürlich nicht weiter, davon gibt es Milliarden. Bleibt nur noch der Lykurgus. Dieser ist gramgebeugt, die Geschichte hatten wir schon. Hypsipyle (noch erinnerlich? Wenn nicht üben, üben, üben!) ist die Königin von Lemnos. Die Lemniterinnen oder Lemnosinnen, oder was auch immer, haben Aphrodite nicht anständig geehrt, deswegen straft sie Aphrodite mit Mundgeruch. Daraufhin wollen die Typen nichts mehr mit den Lemnasen zu tun haben, (die Lemnasen hätten natürlich auch eine Flasche Ouzo saufen können, das übersteht kein Mundgeruch, aber egal), und treibens mit den thrakischen Sklavinnen. Daraufhin sind die Lemnerinnen sauer und murksen die Lemner ab, außer Thoas, das ist der Papa von Hypsipyle und den hat sie verschont. Daraufhin sind dann die Lemnernixen sauer auf ihre Königin, also auf Hypsipyle und schicken sie in die Wüste, bzw. in die Ägäis, was wohl auf das Gleiche hinausläuft. Als Sklavin landet sie dann bei Lykurgus, dem König von Arkadien, da soll sie auf dessen Sohn aufpassen. Als nun die die Helden gegen Theben ziehen, Sieben gegen Theben (das ist die Geschichte mit den zwei Söhnen von Ödipus die sich in die Wolle kriegen, also üben, üben, üben) zeigt sie denen, also den Helden, eine Wasserquelle und lässt den kleinen Prinzen unter einem Baum liegen. Da wird er von einer Schlange totgebissen, was wiederum Lykurgus verbittert, der Hypsipyle, die wahrscheinlich immer noch an Mundgeruch leidet, zum Tode verurteilt. Auf dem Weg zum Schafott, begegnen ihr ihre beiden Söhne Euneos und Nebrophonus, die sie freudig begrüßt und die sie wiederum vor dem Tod bewahren. Das mit den beiden Söhnen ist natürlich jetzt ein bisschen verwirrend, woher hat die zwei Söhne? Also nachdem die Lemniterinnen ihre Männer dahingemeuchelt hatten, machten die Argonauten (Was? Schon vergessen? Üben, üben, üben. Argonauten sind die, die das goldene Vlies holen sollen.) halt auf Lemnos. Und da auch Helden sich mal amüsieren wollen, haben sie mit den Lemniterinnen, die sind wohl in der Zwischenzeit auf die Idee mit dem Ouzo gekommen, Sachen angestellt, von denen wir keine Ahnung haben. Hypsipyle zum Beispiel macht was mit Jason und das führt halt zu Kindern, wie das genau geht, beschreibt Dante ja im 25. Gesang, noch erinnerlich?

Zum Orte sinkt es (der ungenannt hier bleibe)
Das Blut, zwiefach geläutert, träufelt dann
In andrer Form zum andern Blut im Weibe

Also da träufelte irgendwas von einem Ort, den man nicht nennen darf, zum Blut des Weibes, in diesem Fall also zu Hypsipyle, daraus entstehen dann zwei Kinder und die retten Mama das Leben. Sie fragen sich, warum es soviele griechische Mythen gibt? Das ist eine ziemlich dusselige Frage. Warum gibt es soviele Fortsetzungen von der Lindenstraße? Ein kleines Problem haben wir noch, wer Hypsipyle vor dem Schafott bewahrt hat, ist unklar, es gibt mehrere Varianten, aber das ist jetzt egal.

Die Terzine oben müssen wir uns aber doch nochmal auf der Zunge zergehen lassen.

Wie jene Mutter, als dem Gram zur Beute
Lykurgus fiel, den Söhnen freudig tat,
hätt ich‘ s gemacht, wenn ich die Glut nicht scheute

Er nimmt also ein Beispiel freudiger Begrüßung, also den Moment in dem Hypsipyle ihre Söhne begrüßt, nur um dann zu sagen, dass er, also Dante, seinen Guinizelli genau so nicht begrüßt. Das ist schon reichlich durch die Brust übers Knie ins Auge.

Nichts hörend, sehend, ganz in seinen Banden
Schritt ich nachdenklich hin und ohne Laut
Dass wir nur durch die Glut getrennt uns fanden

Das überrascht. Wir hätten kaum vermutet, dass der sonst so aufgeweckte Dante durch das bisher Gesagte so ins Grübeln gerät und fragen uns auch, über was er denn jetzt nachgrübelt. Allerdings ist Guinizelle in ähnlich merkwürdiger Stimmung.

„Du lässt mir soviel Liebes angedeihen“,
Sprach er, „dass deines Blickes lichte Spur
Nicht Lethe tilgen könnte noch entweihen“

Wir können überhaupt nicht erkennen, dass Dante Guinizelle irgendetwas besonders Liebenswürdiges gesagt hat. Er denkt sich zwar was Liebenswürdiges, ein paar Terzinen weiter oben, aber er sagt es nicht.

Als hier das teure Vorbild mir genaht,
Der zarter süßer Reime Kunst verstanden
In dessen Spur manch besserer Meister trat

Das denkt er sich aber nur, sagen tut er es nicht. Wir nehmen aber zur Kenntnis, dass Guinizelle allein schon von den liebenswürdigen Gedanken seine Person betreffend gerührt ist. Wer jetzt allerdings auf die Idee kommt, dass die Geister Gedanken lesen können, der irrt gewaltig. Denn Guinizelle ist völlig unklar, was Dante an ihm so toll findet.

Doch sprich, wenn deine Lippe Wahrheit schwur,
Warum so warm dir‘ s strömt aus Herzensgrunde
Und mir soviel Verehrung wiederfuhr

Die Antwort, die Dante jetzt gibt, ist allerdings interessant. So ähnlich tönen auch die Bewunderer Dantes, sie sind nämlich alle voll von Bewunderung, verleihen aber ihrer Bewunderung mit so blassen Worten Ausdruck (großer Dichter, vereint das gesamte Wissen seiner Zeit, unsterblich etc. etc.) , dass man sich fragt, ob man es, um mit Adorno zu sprechen, nicht mit einem neutralisierten Bewußtsein zu tun hat, dem es egal ist, woran es sich begeistert.

Und ich: „Es ist das Lied aus deinem Munde!
Die Tinte, die es hinschrieb, wird man loben,
Solang dein Lied lebt auf dem Erdenrunde!“

Ups??!! Man lobt die Tinte??!! Hat Meister Zoozmann was versemmelt?

E io a lui: «Li dolci detti vostri,
che, quanto durerà l'uso moderno,
faranno cari ancora i loro incostri»

Und ich zu ihm: “Eure schönen Verse,
die, solange wie die moderne Zeit noch dauert,
werden steigern den Wert eurer Tinte

Meister Zoozmann hat also nix versemmelt, Dante hat‘s versemmelt. Man wird also, was Guinizelle angeht, nicht seine Verse loben, sondern die Tinte, mit der er selbige geschrieben hat. Ist das jetzt subtil und wir raffen es nur nicht? Macht sich Dante lustig? Bei manchen zeitgenössischen Autoren wäre das wirklich witzig. Ich schreib mal die Begründung des Nobelpreiskommitees für die Verleihung des Nobelpreises für Literatur an Günther Grass.

Sehr geehrte Damen und Herren, königliche Hoheiten,

die Schreibmaschine, mit der Günter Grass die Blechtrommel schrieb, war einfach, jedoch robust, die Tasten nicht schön, jedoch so gestaltet, dass sie ihren Zweck vollkommen erfüllten. Wir sind davon überzeugt, dass der Ruhm der Schreibmaschine in dem Maße wachsen und um die Welt wallen wird, wie das Werk unseres heute geehrten Dichters den Weg in die Buchregale und unter die Weihnachtsbäume phantasielos Schenkender wandert. Die ausgeleierten Farbbänder werden der Welt von der geistigen Arbeit künden, von ihrem Weg aus dem Bauch und Arsch in den Hypothalamus über die Finger auf‘s Papier.

„Ach Bruder, der da wandelt weiter oben“,
Sprach er, den Geist mir zeigend mit dem Finger,
„Gab in der Sprachkunst bessre Schmiedeproben.

Er ward als Romancier und Minnesänger
Besiegt von keinem! Lass die Toren schrein,
Dass Gerault wär der feinre Formenzwinger.

Zoozmann hat das Kreuzworträtsel teilweise schon gelöst, im Original sind die Verse dunkler.

«O frate», disse, «questi ch'io ti cerno
col dito», e additò un spirto innanzi,
«fu miglior fabbro del parlar materno.

Versi d'amore e prose di romanzi
soverchiò tutti; e lascia dir li stolti
che quell di Lemosi credon ch'avanzi.


“Oh Bruder”, sagte er, “jener den ich dir mit dem Finger zeige”,
dabei deutete er auf einen Geist über uns
„war ein größerer Dichter als ich in der Muttersprache.

Mit seinen Liebesliedern und Romanen
Überragt er alle; lass reden die Narren
die glauben, dass der von Lemosi bedeutender ist


Zoozmann hat also den ersten Puzzlestein schon hingelegt, der von Lemosi ist Girault de Bornelh. Wenn wir solche Verse lesen, sehen wir unmittelbar ein, warum Dante heute weltweit bewundert wird. Wir haben zwei völlig unbekannte Dichter, deren Werk nur noch bruchstückhaft vorliegt, wobei diese Bruchstücke nicht mal den Leuten bekannt sein dürften, deren Glut für den Dichter durch Steuergelder angeheizt wird. Hier teilt uns Dante mit, dass der eine dem anderen natürlich weit überlegen ist, ohne uns aber mitzuteilen, worin die Überlegenheit besteht. Dem Autor stellt sich somit eine wirklich gewichtige Frage. Es gibt ja eine breite Debatte innerhalb der Frankfurter Schule und ihres Umfeldes (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin, Herbert Marcuse etc.) über die Rezeption von Kunstwerken im Zeitalter der Kulturindustrie und über die industrielle Produktion und Verbreitung von Kunst. Man kann sich aber fragen, ob die Rezeption von Kultur durch den staatlich organisierten Apparat und deren steuergeldfinanzierten verbeamteten Geistlichen nicht das spannendere Thema wäre. Mag sein, dass die Artefakte der Kulturindustrie die Wiederkehr des ewig Gleichen sind, genau genommen, wird man dies kaum bestreiten können. Weit größer ist aber der Leerlauf des pseudowissenschaftlichen universitären Geblubbere und bei den dort tätigen Jungs und Mädels scheint das „kulturelle“ Interesse Hand in Hand zu gehen mit dem Bedürfnis, ein sicheres Plätzchen hinter einem Schreibtisch zu ergattern. Wir haben also insgesamt drei Dichter. Zum einen Guinizelle, das ist der, mit dem sich Dante gerade unterhält, zum anderen der, der über ihnen steht, das ist wohl Arnault Daniel und schließlich noch der, der, nach Ansicht von Guinizelle, weit unter diesem steht, das ist Girault de Bornelh. Dass es über Guinizelle wenig historisch Gesichertes zu berichten gibt, haben wir bereits erwähnt. Über Arnaut Daniel ist wenig bekannt. Geboren wurde er um 1150 in der Dordogne (Frankreich, Department zwischen Paris und den Pyrenäen), und er starb etwa um 1210. Er dichtete auf okzitanisch, eine Tatsache, auf die wir gleich zurückkommen werden. Überliefert sind 12 Gedichte. Da Dante weiter oben schreibt, dass er auch Romane geschrieben hat (Mit seinen Liebesliedern und Romanen) ist davon auszugehen, dass er dies auch tatsächlich getan hat. Diese sind aber nicht mehr vorhanden. Girault de Bornelh wurde etwa um 1160 geboren und starb etwa um 1220. Er stammt aus der Nähe von Limoges (Frankreich). Er hatte
Verbindungen zu den meisten Königshäusern der damaligen Zeit und begleitete Richard Löwenherz auf seinem Kreuzzug. Das Urteil Dantes über ihn ist unterschiedlich. Hier ist steht er ja ganz weit unter Arnaut Daniel. Das ist in der Schrift "de vulgare eloquentia" noch anders. Dort zählt er Girault de Bornelh noch zu den drei größten Troubadours der Provence, wobei er Girault de Bornelh für den größten Dichter der Tugend hält, Arnaut Daniel für den größten Dichter der Liebe und Betrand de Born für den größten Dichter des Krieges. Aus irgendwelchen Gründen ist Giraut de Bornelh dann aber im Rang gesunken.

Sie trauen dem Gerücht, dem äußeren Schein
Und fällen , der Vernunft und Kunst zum Hohne,
Vorschnellen Spruch, der ungerecht muss sein

In Anbetracht der Tatsache, dass Dante im 24. Gesang der Unterhaltung zwischen Vergil und Statius gelauscht hat, in der diese sicher Kriterien herausgearbeitet haben, die es erlauben den Wert einer Dichtung zu beurteilen, sind wir jetzt doch etwas enttäuscht. Wir hätten vermutet, dass Dante aus diesem Gespräch einen Nutzen gezogen hat, er also jetzt die Argumente vorträgt, die er dort gehört hat. Aber auch dort haben wir uns schon darüber gewundert, dass er uns zwar erzählt, dass Vergil und Statius ins Gespräch über Literatur vertieft sind, uns aber über den Inhalt des Gesprächs nichts berichtet. Ich würde sagen, er hat schlicht die Argumente, die diese vorgetragen haben, nicht verstanden und deswegen hat er uns auch nichts darüber berichtet.

So priesen auch die Alten den Guittone,
Den blinder Lober Lobspruch hochgeschraubt,
Bis bessrer Wahrheit doch verblieb die Krone

Der Autor gibt zu, dass er das immer schon mal wissen wollte, dass irgendwelche Leute den Guittone grundlos gelobt haben, bis, aus welchen Gründen auch immer, die Wahrheit ans Licht kam. Den Guittone d'Arezzo kennen wir schon aus dem 24. Gesang.

Ich sprach: „Wenn mich erfüllt der Liebe Geist
Lausch ich der Melodie, zu deren Noten
Den Text zu schreiben mich‘ s dann mächtig reißt“

Drauf er: „Jetzt, Bruder, seh ich wohl den Knoten,
Der den Notar verstrickt, mich und Guittone,
Und uns den neuen süßen Saft verboten“

Was euch der Geist diktiert, in treuer Frone
Hin auf‘ s Papier zu werfen, war euch eigen-
Wir aber klebten starr an der Schablone.

Also der Guittone ist der, der, nach der Auffassung Dantes, ein hohler Wortdrechsler ist. Dies unterscheidet ihn deutlich von Dante, findet Dante.

Doch wenn so hohes Vorrecht dir erlaubt,
Du Glücklicher, das Kloster zu betreten,
Wo Christus herrscht, als des Kapitels Haupt-

So magst du mir ein Vaterunser beten,
Soviel uns nottun mag in dieser Welt,
Wo ausgeschlossen sündiges Übertreten

Guinizelli bittet also Dante, wie schon x andere vor ihm, für die im Läuterungsberg Büßenden (da wird man ja nicht mehr in Versuchung geführt, das sündige Übertreten ist da ausgeschlossen, was wiederum auf der Erde nicht so sein kann, denn dann hätten Gottes Kinder ja quasi keinen freien Willen mehr) zu beten.

Drauf sah ich – um dem Nachbar wohl das Feld
Zu räumen – Guido in die Flammen gleiten
Wie sich ein Fisch zum Grund des Teiches schnellt

Guido Guinizelli lässt also wieder die reinigende Kraft des Feuers über sich ergehen und Dante beschäftigt sich mit einem anderen Dichter, dem oben bereits erwähnten Arnault Daniel.

Doch näher trat ich nun zu jenem zweiten,
Beteuernd ihm, dass seines Namens wegen
Mein Herz im Frohwillkommen möchte bereiten

Da kam sein Freimut freundlich mir entgegen:
„Beglückt, dass euer Wunsch so artig töne,
Ziemt sich‘ s mir nicht, auf‘ Schweigen mit zu legen

Dieser Arnault Daniel dichtete aber auf Okzitanisch, genauer genommen auf Provenzalisch, einer Untergruppe, der unter dem Begriff Okzitanisch zusammengefassten Sprachen. Okzitanisch war lange Zeit genauso gebräuchlich wie Französisch, wurde dann aber im Zuge der zunehmenden Zentralisierung Frankreichs, in jenem Zentrum, Paris nämlich, wurde ja Französisch gesprochen, zurückgedrängt. Okzitanisch sprechen heute etwa 2 Millionen Menschen als Zweitsprache. Das heutige Verbreitungsgebiet des Okzitanischen ist Südfrankreich, eine sehr kleine Region in Katalonien (Spanien) und einige Täler in den Piemonteser Alpen (Italien). Arnault Daniel spricht ausschließlich in Okzetanisch / Provenzalisch. Sie brauchen also nicht versuchen, die letzten zwei Terzinen zu entschlüsseln, es ist nicht Italienisch. (Provenzalisch ist alles, was zwischen den zwei Sternen steht).

El cominciò liberamente a dire:
«*Tan m’ abellis vostre cortes deman,
qu'ieu no me puesc ni voill a vos cobrire.

Ieu sui Arnaut, que plor e vau cantan;
consiros vei la passada folor,
e vei jausen lo joi qu'esper, denan.

Ara vos prec, per aquella valor
que vos guida al som de l'escalina,
sovenha vos a temps de ma dolor*!».
Poi s'ascose nel foco che li affina.

Das wirft jetzt natürlich die Frage auf, ob Dante Provenzalisch konnte. Okzitanisch / Provinzalisch hatte im Hochmittelalter eine bedeutende Stellung als Literatursprache und wurde an vielen Fürsten- / Königshöfen gesprochen. Es ist also durchaus möglich, dass Dante dieser Sprache mächtig war. Es soll aber keiner auf die Idee kommen, dass für jemanden, der des Italienischen mächtig ist, das Okzitanische ein Klacks ist. Der Autor spricht drei romanische Sprachen, Spanisch, Französisch und Italienisch, aber bei den Versen oben versteht er schlicht nur Bahnhof.