Kein Höllendunst noch die vom Lichtgefunkel
Des allerkleinsten Sterns entblößten Nächte
Wenn Wolken dunkler färben noch das Dunkel
Nichts was mir mehr verschleierte und schwächte
Die Sehkraft, als mich hier der Dampf umflossen
Nichts was mir größeres Unbehagen brächte
Beschrieben wird, etwas verklausuliert, die Wolke, die Dante schon von
weitem gesehen hatte (15. Gesang) und die so dicht war, dass vollkommene Dunkelheit
umgab, wer sich darin befand.
Ich hörte Stimmen, die um Frieden baten
Bei Gottes Lamm und um Barmherzigkeit
Mit der es tilgt des Menschen Missetaten
In der Wolke hören sie das „Agnus Dei“, Lamm Gottes. Hierbei
handelt es sich um ein Gebet, das Bestandteil ist Bestandteil der Liturgie des
Abendmahls.
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.
Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, dona nobis pacem.
deutsche Übersetzung
Christe, Du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich
unser.
Christe, Du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, erbarm dich
unser.
Christe, Du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt, gib uns deinen
Frieden, Amen.
Wie man schon der deutschen Übersetzung entnehmen kann, wird „Agnus
Dei“ mit Jesus Christus gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung hat früh
stattgefunden und ist durch das zahlreiche Bibelstellen belegt. Zum Beispiel weist
Johannes der Täufer (Johannes, 1, 29) mit diesen Worte auf Jesus hin:
Des andern Tages sieht Johannes Jesum zu ihm kommen und spricht: Siehe, das ist
Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt! Dieser ist's, von dem ich
gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, welcher vor mir gewesen ist; denn er war
eher denn ich. Und ich kannte ihn nicht; sondern auf daß er offenbar würde
in Israel, darum bin ich gekommen, zu taufen mit Wasser. Und Johannes zeugte und
sprach: Ich sah, daß der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb
auf ihm. Und ich kannte ihn nicht; aber der mich sandte, zu taufen mit Wasser,
der sprach zu mir: Auf welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm
bleiben, der ist's, der mit dem heiligen Geist tauft. Und ich sah es und zeugte,
daß dieser ist Gottes Sohn.
Wer ist‘ s, der straflos unsern Rauch durchbrochen
Und von uns spricht, als messe noch die Zeit
Sein Sinn nach Monatsfristen oder Wochen?
Etwas frei übersetzt, kommt aber hin. Das italienische Orginal sieht
so aus.
«Or tu chi se' che 'l nostro fummo fendi,
e di noi parli pur come se tue
ancor lo tempo per calendi?».
Wer bist du, der unseren Qualm durchdringt
von uns sprichst ganz so als ob
die Zeit du noch nach dem Kalender zähltest
Die Zeit nach dem Kalender zählen die Lebenden, bei den Toten kommt
es ja auf einen Monat mehr oder weniger auch nicht an.
Lombard war ich, Marco einst genannt
Hielt hoch als Welmann jene Tugend grade
Danach als Ziel kein Bogen mehr sich spannt
Sagen will er, was schon Guido del Duca im 14. Gesang gesagt hat. Die Welt
ist so verderbt, dass heute keiner mehr die Werte hochhält (... als Ziel
kein Bogen mehr sich spannt), die er noch hochgehalten hat.
Erst einfach, muss ich ihn verdoppelt finden
Wenn ich – nach allem, was du mir gesagt-
Das Hier sich lasse mit dem Dort verbinden
Besser verständlich ist vielleicht das italienische Original.
Prima era scempio, e ora è fatto doppio
ne la sentenza tua, che mi fa certo
qui, e altrove, quello ov'io l'accoppio.
Zuerst war er nur einfach, nun ist er verdoppelt
durch dein Urteil das zur Sicherheit gesteigert
was hier und andernorts ich schon erfahren
Das geht so: Schon Guido del Duca (andernorts) hat ihm bereits mitgeteilt,
dass die Welt schlecht ist, dessen ist er sich, nachdem es Marco (hier) ihm nochmal
erzählt hat, gewiss. Was er sich jetzt fragt, ist, warum das so ist. In dem
Maße also, wie er sich sicher ist, dass die Welt schlecht ist, steigt auch
sein Zweifel, denn wenn die Verderbtheit der Welt sicher ist, stellt sich umso
mehr die Frage, nach der Ursache dieser Verderbtheit.
Doch gib mir von der Ursach sichere Kunde
Sie zu erkennen und zu lehren: Der
forscht hier und der am Himmel nach dem Grunde
Soll heißen, es gibt Leute, die die Ursache der allgemeinen Misere
im Himmel sehen und andere, die sie auf der Erde suchen. Der Autor würde
natürlich jetzt auf der Erde suchen und eher dazu neigen, die verschiedenen
Wirtschaftsmodelle von der Klassik bis zum Neokeynsianismus durchzugehen. Er glaubt,
dass man so eher eine Antwort auf die Fragen geben kann, wie Krisen entstehen,
aber das sieht man im Himmel natürlich ganz anders.
Da seufzte Marco und sein Ach klang schwer
„O Bruder“, sprach er kummervollen Blickes
„Blind ist die Welt und du kommst ja daher
Ihr Lebenden wälzt immer eures Glückes
und Unglücks Schuld den Sternen zu und sprecht
Vom unentrinnbaren Zwange des Geschickes
Auffallend ist, dass Marco Dante etwas unterstellt, was dieser gar nicht
gesagt hat. Dante wollte nur wissen, ob die Ursache der Misere himmlischer oder
irdischer Natur ist. Dante hat nicht gesagt, dass das irgendwas mit den Sternen
und der Unentrinnbarkeit des Schicksals zu tun hat. Da sich aber Dante mit Dante
unterhält, gehen wir davon aus, dass sich die Unstimmigkeiten beheben lassen.
Es folgt jetzt eine Diskussion über den freien Willen.
Wär‘ s so, stünd um den freien Willen schlecht
Und zeugte Gutes Freude, Böses Pein
So wären Lohn und Strafe ungerecht
Wir gehen kaum davon aus, dass Dante hier nicht die These von irgendjemandem
referiert, wissen aber nicht von wem. Aber auch ohne Thomas von Aquin, den wir
im Zweifelsfalle als Autor vermuten, sind die Verse zwar nicht richtig, aber verständlich.
Gemeint ist wohl, dass Lohn und Strafe ungerecht wären, wenn der, der genetisch
gut ausgestattet ist, eben Gutes tut und der, der eben genetisch schlecht ausgestatte
ist, Schlechtes. Gäbe es hier einen Automatismus, dann wäre ja bei den
Bösewichtern dieser Welt von vorneherein auf verminderte Schuldfähigkeit
zu plädieren, meint Dante.
Den Antrieb pflanzte euch der Himmel ein
Nicht jeden, sag ich, doch hätt‘ ich‘ s gesagt
So habt ihr Urteil doch für ja und nein
Man hätte klarer übersetzen können
Lo cielo i vostri movimenti inizia;
non dico tutti, ma, posto ch'i' 'l dica,
lume v'è dato a bene e a malizia,
Der Himmel ist der Anfang eures Handelns
ich sage nicht immer, doch auch wenn ich es täte
ist die Vernunft euch gegeben für das Gute und das Böse
Der Himmel, also Gott, legt erstmal die grundsätzlichen Eigenschaften
eines Menschen fest, wobei Dante hier einschränkt, nicht alle, aber die meisten.
Aber selbst wenn er alles festlegen würde, hätte der Mensch ja immer
noch die Fähigkeit, das Gute und das Böse zu erkennen und das Gute zu
tun und das Böse zu lösen. Das muss man jetzt natürlich nicht logisch
finden. Denn erstens stellt sich natürlich die Frage, warum Gott manche Menschen
mit bösem Genmaterial ausstattet und zweitens wird hypostasiert, dass er
alle Menschen mit der Fähigkeit ausstattet, ungeachtet ob sie gut oder böse
sind, das Böse zu erkennen. Genau das fällt aber manchmal ausgesprochen
schwer, und die Auffassungen darüber, was Böse ist, scheinen ja auch
ziemlich relativ zu sein. Also so richtig logisch ist das nicht.
Und Willensfreiheit, die – wenn unverzagt
Sie bleibt im ersten Kampf und weiterstreitet -
Gstärkt im Sieg, den Himmel überragt
Das ist nur so ungefähr richtig.
e libero voler; che, se fatica
ne le prime battaglie col ciel dura,
poi vince tutto, se ben si notrica.
Und freier Wille den mit Himmels Hilfe
die Müdigkeit der ersten Kämpfe nicht erlahmt
gewinnt dann alle, wenn am Guten er sich labt
Det wes ich ja och nich. Also wenn das jetzt eine psychologische Aussage sein
soll, dann finden wir das merkwürdig. Behauptet wird, dass, wenn der freie
Wille, den, so die Behauptung, alle Menschen, auch die mit den bösen Genen
ausgestatteten, besitzen, sich mal dazu entschlossen hat, Gutes zu tun, was am
Anfang schwer fällt, dann tut er immer das Gute. Der Autor denkt bei diesen
Versen eher an Goethe.
Gewöhnlich glaubt der Mensch,
wenn er nur Worte hört,
es müsse sich dabei
doch auch was denken lassen.
Wird es jetzt wirklich besser ?
Drum unterwerft euch frei dem, was euch leitet
Höherer Einsicht, besserer Natur
Dass kein Gestirn euch Einfluss mehr bereitet
Diese Übersetzung ist zwar wieder mal weitgehend sinnfrei, aber so
richtig besser wird es nicht.
A maggior forza e a miglior natura
liberi soggiacete; e quella cria
la mente in voi, che 'l ciel non ha in sua cura
Höheren Mächten und besserer Natur
freiwillig seid ihr unterworfen, und jene,
nicht der Himmel, schafft in eurem Geiste
Soll heißen, dass man freiwillig auch das Gute tun kann, auch wenn
man böse ist, man ist also sozusagen frei. Höflich formuliert würde
man sagen, das ist etwas abstrakt, von der Lebenswirklichkeit etwas entfernt.
Ich persönlich bräuchte übrigens nicht mal gute Gene, um großzügig
zu sein, mir würde es schon reichen, zwei Millionen von Papa zu erben, dann
wäre ich auch großzügig, wenn ich nichts erbe, nicht mal gute
Gene, dann bin ich etwas knickeriger. Was es für einen ausgebeuteten Landarbeiter
in Italien konkret hätte bedeuten sollen, sich mit freiem Willen für
das Gute zu entscheiden, ist auch unklar. Die Dichtung hätte gewonnen, wenn
sie sich von Thomas von Aquin weg und zur Lebenswirklichkeit hingewendet hätte.
Wir sehen durchaus ein, dass es noch 600 Jahre gedauert hat, bis Menschen eine
Gesellschaft umfassend beschreiben konnten, aber die Intellektuellen des Mittelalters,
die waren schon ganz schön durch den Wind.
Folgt nun die heutige Welt des Irrtums Spur
Euch, euch nur müsst ihr nach dem Irrtum fragen
Hör den Beweis mit wenigen Worten nur
Na jetzt bin ich aber gespannt. Ob wir allerdings der Logik folgen können,
wissen wir noch nicht so genau. Goethe ?
Schüler: Mein Abscheu wird durch Euch vermehrt.
O glücklich der, den Ihr belehrt!
Fast möcht ich nun Theologie studieren.
Mephistopheles: Ich wünschte nicht, Euch irre zu führen.
Was diese Wissenschaft betrifft,
Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden,
Es liegt in ihr so viel verborgnes Gift,
Und von der Arzenei ist's kaum zu unterscheiden.
Am besten ist's auch hier, wenn Ihr nur einen hört,
Und auf des Meisters Worte schwört.
Im ganzen- haltet Euch an Worte!
Dann geht Ihr durch die sichre Pforte
Zum Tempel der Gewißheit ein.
Dann halten wir uns mal an die Worte und gehen durch die sichere Pforte hinein
in den Tempel der Gewissheit.
Aus dessen Hand, der sie mit Lust getragen,
Bevor sie ward, gleich einem Mägdelein
Das lacht und weint mit kindlichem Behagen
Entsteht die Seele, einfältig und rein
Dass sie vom heiteren Schöpfer ausgegangen
Und nach Ergötzung strebt, weiß sie allein
Also da sind wir jetzt erstmal platt. Dante interpretiert wohl die Auffassung
des Thomas von Aquin (geb.1225, gest.1274), so wie sie in der Schrift „
Die Seele. Erklärungen zu den drei Büchern des Aristoteles“ dargestellt
ist. Ob er dessen Auffassung richtig intepretiert, kann man aus den wenigen Andeutungen
nicht entnehmen. Der Autor will zwar auch nicht so genau wissen, was bei Thomas
von Aquin eigentlich steht, aber bei ihm ist die Seele teilweise auch gleichgesetzt
mit intellektuellem Vermögen, also die Seele ist es, die den Menschen zum
Denken befähigt. Dass die Seele von Gott erschaffen worden ist, kann er Albertus
Magnus (geb. um 1200, gest. 1280) „Über die Natur und den Ursprung
der Seele“ entnommen haben. Wir haben diese Schrift natürlich nicht
gelesen, aber höchstwahrscheinlich hat sie Gott erschaffen. Was wir allerdings
nicht glauben, obwohl wir es lustig finden, ist, dass die Seele am Anfang sich
verhält wie ein kleines lustiges Mädchen. Und wenn wir prüfen,
ob das tatsächlich auch im italienischen Original steht, dann stellen wir
fest, dass das da tatsächlich steht.
Esce di mano a lui che la vagheggia
prima che sia, a guisa di fanciulla
che piangendo e ridendo pargoleggia,
l'anima semplicetta che sa nulla,
salvo che, mossa da lieto fattore,
volontier torna a ciò che la trastulla.
Sie enstammt der Hand dessen, der ihr schmeichelt
bevor sie noch ward geboren, wie einem Kind
die sich wie kleines Mädchen benimmt und weint und lacht
Die einfältige Seele, die nichts weiß,
außer, dass der Hand des fröhlichen Schöpfers entsprungen
sie gern sich dem zuwendet, was sie vergnügt
Sollen wir uns jetzt freuen, dass Dante mal aus seinem eigenen tiefbewegten
Busen schöpft? Könnten wir, aber wenn schon der Geist, der ja, wie oben
dargestellt, das Böse und Gute erkennen kann, also sozusagen die Bedingung
ist, dass man das Gute dann auch tatsächlich tut, dann finden wir natürlich
nicht gut, dass auch der Geist selber etwas närrisch ist. Das ist schon sehr
verwirrend. Bringen die nächsten Verse jetzt mehr Klarheit?
Geschmack an kleinem Gut weckt ihr Verlangen
Enttäuschung treibt sie, größerem nachzugehen
Schreckt sie kein Zaum, dem Kitzel anzuhangen
Hm? Verstehen wir das richtig? Also die Seele, die ja der Sitz des Intellektes
ist, ist ein bisschen närrisch, folglich kann sie wohl doch nicht Gut und
Böse unterscheiden (bis dahin hätten wir uns das auch fast gedacht,
aber oben behauptet er ja noch was anderes). Wenn wir das richtig verstehen, dann
ist die kleine närrische Seele den irdischen Reichtümern sehr zugeneigt,
also mit freiem Willen ist da wohl doch nichts. Wir könnten noch prüfen,
ob Zoozmann was verdreht, tut er aber nicht.
Di picciol bene in pria sente sapore;
quivi s'inganna, e dietro ad esso corre,
se guida o fren non torce suo amore.
An nichtigen Gütern findet sie Geschmack
wird fehlgeleitet und dies ist ihr Verlangen
wenn Führung und Zaum nicht bricht ihr Begehren
Also tatsächlich. Das mit dem freien Willen könnte also funktionieren,
rein theoretisch, tut es aber nicht. Deswegen brauchen wir Kontrolle.
Drum soll sie im Gesetzeszwange stehen
Auch sei ein Fürst mit Augen so gestaltet
Dass mindestens sie Zions Türme sehen
Die Übersetzung ist zwar nicht so ganz koscher, aber das läuft
auf das Gleiche hinaus.
Onde convenne legge per fren porre;
convenne rege aver che discernesse
de la vera cittade almen la torre.
Gesetze bedarfs, ihr Zügel anzulegen
Gesetze damit sie erkenne
von der wahren Stadt zumindest die Türme
Die wahre Stadt ist nun entweder das Paradies oder das Reich Gottes und
davon soll sie zumindest die Türme sehen, also die irdische Gerechtigkeit.
Das wiederum findet der Autor unlogisch. Oben meinte er noch, dass man das Gute
und das Böse ja nicht bestrafen könne, wenn es sich zwangsläufig
aus den Genen ergibt, dann wäre der Einzelne ja nicht verantwortlich, dies
sei ja der Witz des freien Willens, dass man sich für das Gute entscheiden
könne. Wenn jetzt aber jemand nur deswegen nicht Böse ist, weil er sonst
bestraft wird, also durchaus nicht einsieht, dass Böses tun schlecht ist,
dann ist das ja auch keine Leistung mehr. Also ich bin für die Abschaffung
der Gesetze, dann könnte ich mich frei für einen Joint entscheiden,
das wäre zwar böse, würde mir aber Spaß machen. Mit dem Gesetz
gibt es jetzt auch wieder ein Problem, also Dante hätte da gerne so einen
richtigen Herrscher, der mal anständig durchgreift.
Gesetze gibt‘ s- - wer ist‘ s, der sie verwaltet?
Kein Mensch! Weil jener Hirte, der euch führt,
Zwar wiederkäut, doch nicht die Hufe spaltet
Die Verse versteht zwar niemand, aber sie sind erstmal richtig übersetzt.
Mit Hirte kann entweder ein Herrscher gemeint sein, Dante hätte da gerne
so einen richtigen Kaiser, wie den schon öfters erwähnten Heinrich VII,
der den Streithähnen Italiens mal zeigt, wo der Hammer hängt und das
Land befriedet, oder eben der Papst, der nicht von dieser Welt ist und sich folglich
nicht durchsetzen kann. Wiederkäuen und Hufe spalten ist jetzt gut. Das Wiederkäuen
steht für meditieren, über die Schrift nachdenken, die Gleichsetzung
von wiederkäuen / essen finden sich verschiedentlich in der Bibel, so zum
Beispiel bei Hesekiel, Kapitel 3:
„Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, iss, was vor dir ist, iss diesen
Brief, und gehe hin und predige dem Hause Israel! Da tat ich meinen Mund auf,
und er gab mir den Brief zu essen und sprach zu mir: Du Menschenkind, du mußt
diesen Brief, den ich dir gebe, in deinen Leib essen und deinen Bauch damit füllen.
Da aß ich ihn, und er war in meinem Munde so süß wie Honig.“
Dünner wird es mit den gespaltenen Hufen als Symbol der Gerechtigkeit. Da
muss man schon sehr beherzt sein, um das zu schlucken. Aber von mir aus: Das Schaf
hat gespaltene Hufe und wenn man darin ein Bild für Balance sehen will, dann
meinetwegen. Zustande gekommen ist das Bild wohl, weil irgendjemand versucht hat,
einen Sinn in dem biblischen Befehl zu suchen, dass man alle Tiere essen darf,
die gespaltene Hufe haben und wiederkäuen. Das Wiederkäuen steht dann
für die Verdauung des Wort Gottes und dieses Wort Gottes ruht dann quasi
schwebend und wohl austariert auf gespaltenen Klauen. Dieses Bild macht sich Dante
in einem Anfall von Humor, haha, zunutze, denn er deutet es um. Da hat zwar jemand
das Wort Gottes intus, aber für Gerechtigkeit steht er nicht. Weil er prinzipiell
nicht für die weltliche Ordnung zuständig ist, dann wäre der Hirte
der Papst, oder weil er sie nicht durchsetzen kann, dann wäre der im Italien
jener Zeit nicht vorhandene Herrscher gemeint.
Ob Dante mit Führer auf den Papst oder auf den fehlenden Herrscher zielt,
kann auch durch die folgenden Verse nicht ermittelt werden. Sie beziehen sich
teilweise auf den fehlenden Herrscher, teilweise auf den Papst.
Und weil das Volk die gleiche Neigung spürt,
Nach dem, wonach es sieht den Führer schmachten
Beruhigt es im selben Breitopf rührt
Nicht falsch, aber ein bisschen frei die Übersetzung.
per che la gente, che sua guida vede
pur a quel ben fedire ond'ella è ghiotta,
di quel si pasce, e più oltre non chiede
weil die Leute, die ihren Führer sehen
trachten nach dem Gut, an dem auch jener nascht
daran weiden sie sich, und anderes suchen sie nicht
Die Gesamtargumentation ist also zunehmend zickzackartig. Gestartet ist
das mit einer Diskussion über den freien Willen, dann kam ein Exkurs über
die Notwendigkeit der weltlichen Ordnung, und jetzt sind wir bei der Vorbildfunktion
der Führer angelangt. Die eigentliche Klammer, die das zusammenhalten soll,
ist die Schlechtigkeit der Welt.
Die schlechte Führung musst du drum erachten
Als Ursach nur der weltverderbten Sünden
Musst nicht Vererbung als den Grund betrachten
Die Idee, dass das Volk Vorbilder braucht, finden wir jetzt natürlich
a) elitär und b) sind wir auch nicht überzeugt. Schon Dante hätte
nüchtern konstatieren können, dass die Vorbilder nun mal nicht so sind,
wie er sich das wünscht und ermahnen nichts nützt. Wir späteren
wissen auch, dass immer dann, wenn es starke Führer gab, es ganz mächtig
in die Hose ging. Aus heutiger Sicht würde man sagen, dass die Vorstellungen
zur Politik, zur sozialen Lage, zur Wissenschaft etc. des mittelalterlichen Menschen
höchst simplizistisch waren. Wir lernen daraus, dass wir in den letzen siebenhundert
Jahren nicht nur einen gewaltigen Zuwachs an naturwissenschaftlichem Wissen hatten,
sondern auch der heutige Durchschnittsbürger zu einer weit differenzierteren
Sicht der Dinge kommt, als der mittelalterliche Mensch.
Argumentativ kommt jetzt ein Saltomortale. Es geht auf einmal um die Lehre der
zwei Reiche; der Zuständigkeitsbereich des Papstes ist der Himmel und der
des Kaisers die Erde, wenn das so ist, ist es irgendwie gut, meint Dante.
Einst hatte Rom, die Ordnung zu begründen
Zwei Sonnen: eine Sollte dieser Welt
Die Gottes Wegen Licht entzünden
Von welcher Zeit Dante hier konkret spricht, ist weitgehend unklar, dem
Autor ist keine Epoche bekannt, wo in Rom Kaiser und Papst in friedlicher Harmonie
lebten.
Jetzt ist der Hirtenstab dem Schwert gestellt
Und eine lischt der andern Sonne Brennen
Drum ist es nun mit beiden schlecht bestellt
Angespielt wird wohl auf den Dauerkonflikt zwischen Staufern, vor allem
Friedrich II, dessen Sohn Manfred von Sizilien und dessen Neffe Konradin und dem
Papstum. Dante allerdings hätte wissen können, dass der Konflikt zwischen
den kaisertreuen Ghibellinen und den papsttreuene schwarzen Guelfen handfeste
ökonomische Ursachen hatte. Wir haben im Grunde zwei Konfliktherde. Auf der
einen Seite haben wir das Streben der konkurrierenden Städte Siena, Mailand,
Florenz, Pisa, Venedig um die wirtschaftliche Vormachtstellung, auf der anderen
Seite den Konflikt zwischen einem aufkommenden Bürgertum und dem Adel. Es
hätte nicht viel genützt, wenn der Papst sich wieder dem Himmel zugewandt
hätte, der Kaiser den irdischen Dingen. Der Grundkonflikt hätte sich
dann andere Symbole gesucht. Es überrascht tatsächlich, mit welchen
simplen und schematischen Mustern Dante argumentiert.
Weil keins das andere will in Ehrfurcht nennen!
Sieh auf die Ähren, dann wirst du‘ s begreifen
An ihren Früchten, sollt ihr sie erkennen
Das an „ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ ist Matthäus
7, 16: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Sammelt man auch
Trauben von Dornen, oder Feigen von Disteln?“
Es hätte Dante ohne weiteres auffallen können, dass auch in anderen
Ländern, z.B. Deutschland, wo das Papstum keine aktiv kriegsführende
Partei war, Konflikte keineswegs ausgeschlossen waren. Die Konflikte hatten sehr
viel tiefere Ursachen, als der Griff des Papstes nach irdischer Macht, bzw. der
Griff des Kaisers nach der göttlichen. Was sich Dante erhofft, ist eine starke
Zentralregierung. Hier hofft er wohl auf einen „wohlmeinenden“ Diktator,
er hätte aber wissen können, dass ohne Kontrolle und Sanktion es keine
„wohlmeinenden Diktatoren“ gibt. Wir nehmen ihm nicht übel, dass
er nicht in der Lage war, politische Prozesse systematisch zu durchdringen, aber
solche Plattitüden, darf man ihm dann schon übel nehmen.
In jenem Land, das Etsch und Po durchstreifen
Fand sich von jeher Adelsinn und Sitte
Bis Friedrichs Kampf mit Rom begann
Gemeint ist wohl die Lombardei, die zu Dantes Zeiten fast das gesamte Italia
settentrionale (Gegend nördlich der nördlichen Apeninnen, also der ganz
obere Teil des Stiefels) umfasste. Die Kernaussage der Terzine, dass in der Lombardei
vor Friedrich II alles gut war, ist natürlich sehr allgemein gehalten. Was
er damit meint, ist unklar. Schon vor Friedrich II versuchte die Lombardei mit
der Gründung des Lombardenbundes unabhängiger vom Kaiserturm der Staufer
zu werden, und auch schon vor Friedrich II begannen die nach Unabhängigkeit
strebenden Städte im Papstum einen Verbündeten zu sehen. In der Schlacht
bei Legnano 1176 konnte der Lombardenbund das Heer Friedrichs I, Kaiser Barbarossa,
schlagen. Aus der Tatsache aber, dass sich die ganze Lombardei gegen den Kaiser
zusammenschloss, hätte Dante aber schon messerscharf schließen können,
dass nicht alle seine Meinung bezüglich einer zentralen Herrschergestalt
teilten, sehr viele fanden das offensichtlich ziemlich ungünstig. Wer Lust
hat, kann die Schrift Dantes „De Monarchie“, in welcher er versucht
zu begründen, warum der Kaiser die weltliche Herrschaft ausüben muss,
lesen. Sie steht im Netz: http://de.wikisource.org/wiki/Ueber_die_Monarchie,
lernen wird er allerdings nichts dabei. Wer erfahren will, wie der politische
Meinungsbildungsprozess stattfinden muss, der lese Karl Popper, Die offene Gesellschaft
und ihre Feinde. Dante zählt dann eher zu den Feinden der offenen Gesellschaft.
Übel nehmen wir es ihm nicht, manche Erkenntnisse brauchen nun eben mal 700
Jahre um zu reifen, wenn aber jemand behauptet, dass Dante heute noch „aktuell“
sei, dann sagt das viel über denjenigen, der es sagt.
Jetzt hemmt dort nicht Gefahr des Wandrers Schritte
Solang er aus Scham nicht sollte scheuen
Dass er um Freundschaft einen Guten bitte
Das ist zwar reichlich sinnentleert, aber das italienische Original ist
auch nicht so des Sinnes voll.
or può sicuramente indi passarsi
per qualunque lasciasse, per vergogna
di ragionar coi buoni o d'appressarsi.
Nun kann dort sicher wandeln
wer aus Scham für immer hat Verzicht geleistet
mit den Vernünftigen zu sprechen oder sich ihnen auch nur zu nähern
Heißen soll das irgendwie, dass wer sich fürchtet, irgendwas
Vernünftiges sagen zu müssen, dort, also in der Lombardei, ungestört
spazieren gehen könne, weil er niemanden treffe, der sich vernünftig
unterhalten wolle.
Dort in drei Greisen rügt und schilt die neuen
Geschlechter heut die alte Zeit und Art
Greise, die schon sich auf den Himmel freuen
Vielleicht ist das italienische Original einfacher zu verstehen, wenn man
anders übersetzt
Ben v‘ en tre vecchi ancora in cui rampogna
l'antica età la nova, e par lor tardo
che Dio a miglior vita li ripogna:
Betrachte gut die drei Alten durch welche anklagt
die alte Zeit die neue und die schließlich
Gott zum besseren Leben fort wird tragen
Über die drei exemplarischen Greise ist dann wenig bekannt.
Palazzo ist‘ s, der wackere Gherard
und Guid Castell, der richtiger heißen würde
wie ihn der Franzmann nennt, schlicht Lombard
Der erste, Currado da Palazzo stammt aus Brescia, gehörte zur Partei der
Guelfen und war in verschiedenen Städten Stadtoberhaupt. Er lebte in der
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Gherardo (gest.1283) war Kapitän
von Treviso. Guido da Castel stammt aus der Reggio Emilia. Dort wurde er, aufgrund
seiner Zugehörigkeit zur Partei der Ghibellinen, verbannt. Auffallend ist
nur, dass Dante seine Sympathien nicht nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Partei verteilt. Ob Ghibelline, also kaisertreu, oder Guelfe, als Anhänger
des Papstes, scheint ihm weitgehend egal.
So mengt Roms Kirche ihre Doppelwürde
Durch krasse Gier, wobei mit Schlamm sie tränkte
Besudelnd sich und ihres Amtes Bürde
Auch diese Übersetzung ist nicht wirklich geschickt, sie ist etwas
schwer verständlich, man könnte auch sagen unverständlich.
Dì oggimai che la Chiesa di Roma,
per confondere in sé due reggimenti,
cade nel fango e sé brutta e la somma».
Siehst du jetzt dass die Kirche Roms
seit sie verknüpft in einer Hand zwei verschieden Mächte
sie selbst zusammen mit der weltlichen Macht ist in den Schmutz gefallen
Dante auf jeden Fall hat das sofort verstanden, aber der wusste ja auch
schon vorher, was Marco sagen wollte.
„O Marco, was die Einsicht mir beschränkte,
Räumst du hinweg“, rief ich, „jetzt seh ich klar,
was Levins Stamm aus seinem Erbrecht drängte“
Mit „Levins Stamm aus seinem Erbrecht drängte“ wird auf
das 5. Buch Mose Kapitel 18 angespielt:
Die Priester, die Leviten des ganzen Stammes Levi, sollen nicht Teil noch Erbe
haben mit Israel. Die Opfer des HERRN und sein Erbteil sollen sie essen. Darum
sollen sie kein Erbe unter ihren Brüdern haben, daß der HERR ihr Erbe
ist, wie er ihnen geredet hat. Das soll aber das Recht der Priester sein an dem
Volk, an denen, die da opfern, es sei Ochse oder Schaf, daß man dem Priester
gebe den Arm und beide Kinnbacken und den Wanst und die Erstlinge deines Korns,
deines Mostes und deines Öls und die Erstlinge von der Schur deiner Schafe.
Es war also schon im Alten Testament so geregelt, dass die Priesterkaste keine
irdischen Güter hatte. 700 Jahre später geht uns natürlich der
Wink mit der Bibel etwas auf den Sender, weil die Zitierung der Bibel nicht notwendigerweise
das ist, was man als rationale Durchdringung eines Problems ansehen würde.
Wir kennen diese Zitiererei heute nur noch von islamischen Fundamentalisten.
Jetzt allerdings kommen wir zum Pudels Kern.
Doch sag mir, welcher Gherard es denn war
der als ein Denkmal ragt aus besseren Tagen
Zum Vorwurf dieser Zeit, an Tugend bar
Also Dante fragt sozusagen das Duo Marco / Dante, wer denn dieser Gherard
überhaupt war und worin seine besondere Tugendhaftigkeit bestand. Das allerdings
fragen wir uns, siehe oben, auch. Denn über diesen Gherard ist fast nichts
bekannt. Allerdings trifft das Problem auf fast alle Figuren zu, die bei Dante
auftreten. Über keine ist soviel bekannt, dass eine Einschätzung ihrer
Persönlichkeit möglich ist, wir wissen teilweise, so es sich um Zeitgenossen
Dantes handelt, aus welchen Quellen Dante schöpfte.
„Willst du mich kränken, prüfen, so zu fragen?“
Grollte der Greis, „du, der toskanisch spricht,
Hast nie gehört vom ‚guten Gherard‘ sagen?“
Hat der ernste Dante hier einen Anfall von Humor? Will er uns veräppeln?
Ich kenn ihn unter anderem Namen nicht,
Höchstens als Gajas Vater, wie ich meine
Gott mit euch! Leistet hier auf mich Verzicht
Also, das muss man sich jetzt auf der Zunge zergehen lassen. Dante sagt,
dass er Gherard unter einem anderen Namen nicht kennt, gleichzeitig kann er ihn
aber zuordnen, es ist nämlich Gajas Vater. Über diese Gaja wiederum
ist aber auch nichts bekannt. Also entweder hat Dante jetzt einen humorigen Tag
gehabt, oder er ist ein bisschen bluna.