Dante bleibt sich treu. Sowohl über dem Tor der Hölle, wie auch des
Läuterungsberges, wie auch des Paradieses ist eingemeisselt, leuchtend, für
jeden sichtbar, das Motto, das von Anfang der Welt bis zum jüngsten Gericht
die Welt durchdonnerte: WENN DU SIE NICHT ÜBERZEUGEN KANNST, VERWIRRE SIE!
Mit der Übersetzung haben sich dann viele abgemüht, die Ergebnisse sind
in allen Varianten gleichermaßen sinnfrei, doch keiner wagte sie auszusprechen,
die Worte des Antiwahns, der Wahrheit und des Lichts,welche lauten: ICH VERSTEH
NUR BAHNHOF!
Zoozmann
Soviel des Wegs vom Schluss der dritten Runde
Bis zum Beginn des Tags die Sphähre macht
Die wie ein spielend Kind tanzt in der Runde
Soviel vom Laufe schien noch unvollbracht
Bevor der Sonnenball zur Ruh gegangen
Dort war es Vesperzeit, hier Mitternacht
Gmelin
Soviel wie vom Verlauf der dritten Stunde
Bis zum Beginn des Morgens von der Kugel
Erscheint, die immer wie ein Kind beweglich
Soviel erschien nun hier bis gegen Abend
Der Sonne übrig von dem Tageslaufe
Abend war dort und Mitternacht hier unten
Friedrich Freiherrn von Falkenausen
So weit von Tagsbeginn zur dritte Stunde
Der Sphärentanz sich dreht, der, wie im Reigen
Ein spielend Kind, ohn End schwingt die Runde
So weit noch hatt ins Meer hinabzusteigen
Die Sonne Versperstund war dort und hier
müsst eben Mitternacht der Weiser zeigen
Und auf italienisch lauten sie dann so.
Quanto tra l'ultimar de l'ora terza
e 'l principio del dì par de la spera
che sempre a guisa di fanciullo scherza,
tanto pareva già inver' la sera
essere al sol del suo corso rimaso;
vespero là, e qui mezza notte era.
Allerdings ist auch der Autor nicht in der Lage, das zu übersetzen.
Herauskommen soll wohl etwas in der Art.
Soviel wie bis zum Ende der dritten Stunde
vom Moment an in dem die Sphäre des Tages
die wie ein Kind spielt, beginnt zu schwingen
So nah schien die Sonne schon
dem Ende Ihres Laufes nah gekommen;
dort war die Zeit der Abendandacht, hier war Mitternacht
Die ersten drei Zeilen bedeuten dann nichts anderes, als dass drei Stunden
vergangen sind. Warum Dante hier auf den Tagesanbruch verweist, ist völlig
unklar, denn drei Stunden sind drei Stunden, ob sie abends, morgens, mittags verstrichen
sind, ist eigentlich völlig wurscht. Diese drei Stunden fehlen aber noch
bis zum Sonnenuntergang. Warum alle nun mit Vesper übersetzen, ist ein Rätsel.
Auf jeden Fall findet die Abendandacht drei Stunden vor Sonnenuntergang statt,
denn einerseits fehlen noch drei Stunden bis Sonnenuntergang und andererseits
ist es die Zeit der Abendandacht. Jetzt müsste man nur noch wissen, was Dante
als Sonnenuntergang nimmt. Nimmt er zum Beispiel neun Uhr, dann dann liegt Italien
(hier) und der Läuterungsberg (dort) sechs Stunden zurück. Allerdings
ist das in jedem Fall völliger Mumpitz. Nach Dantes Vorstellung liegt der
Läuterungsberg auf der Spitze der südlichen Welthalbkugel, das ist die
einzige geographische Positionsbestimmung. Das reicht aber für eine Zuordnung
zu Zeitzonen nicht aus. Zusammen mit anderen Aussagen, ist der Schluss zu ziehen,
dass Dante über den Lauf der Sonne fundamental falsche Vorstellungen hatte,
und seine Vorstellungen auch nicht mit dem ptolemäischen Weltbild übereinstimmten.
Weiter hatte Dante Ptolemäus im Original wohl auch nie gelesen, denn erst
ab dem 15. Jahrhundert liegen überhaupt lateinische Übersetzungen vor.
Was er kennen konnte, wie detailliert ist unklar, ist die Zusammenfassung des
Almagest (der arabische Name für Syntaxis Mathematica), dem Hauptwerk des
Ptolemäus) durch Al-Fargani (geb. 789 nach Chr.), einem muslimischen Gelehrten
aus Usbekistan. Diese wurde im 12. Jahrhundert mehrere Male ins Lateinische übersetzt,
unter anderem 1175 von Gerard von Cremona . Wenn man also liest, dass Dante in
allen Bereichen des Wissens auf der Höhe seiner Zeit war, dann sollte man
den Ball eher flach halten. Denn objektiv kann nicht ermittelt werden, wieviel
er wusste, und bei zahlreichen Falschaussagen Dantes kann nicht ermittelt werden,
inwiefern er sich irrte, oder wer oder was seine Quelle gewesen war.
Auf Windungen, wie sie den Berg umfangen
Traf uns der Lichtstrahl mitten ins Gesicht
Weil wir dem Niedergang entgegendrangen
Interessant wäre jetzt natürlich zu erfahren, wo bei Dante die
Sonne eigentlich auf der südlichen Halbkugel tatsächlich unterging.
Doch darüber schweigt sich der Vers aus, denn aus der Angabe „auf Windungen,
wie sie den Berg umfangen“, also aus der Information, dass sie auf der zweiten
Terrasse ein Stück gewandert sind, können wir nicht schließen,
wo die Sonne unterging, man müsste schon wissen, wieweit sie den Berg umkreist
haben. Wir nehmen also an, dass sie im Westen unterging, halten das aber bei Dante
keineswegs für sicher, auch wenn Gmelin direkt mit Westen übersetzt.
Die Strahlen trafen mitten auf die Nase
Denn also hatten wir den Bergen umwandert
Dass wir gerade gegen Westen gingen
Das entspricht nicht dem italienischen Vers. Richtig ist zwar, dass die
Sonne im Westen untergeht, auf der ganzen Welt, man kann aber nicht sicher sein,
dass das auch bei Dante so ist.
E i raggi ne ferine per mezzo ‘l naso,
perché per noi girato era sì 'l monte,
che già dritti andavamo inver' l'occaso,
Und deren Strahlen trafen mitten auf die Nase
weil da wir schon umkreist den Berg
dem Sonnenuntergang gingen wir entgegen
Im italienischen Orginal ist also erstmal nur von Sonnenuntergang die Rede,
nicht aber in welcher Himmelsrichtung diese stattfindet.
Doch schien die Sonne jetzt ein schärferes Licht
Als erst, die Stirn belästigend, zu entsenden
Ich staunte drüber und begriff es nicht
Als wenn vom Wasser oder Spiegel wieder
Der Strahl zurückprallt und nach oben steigt
In umgekehrter Richtung als er nieder
Gefallen und sich dann gleichwinklig neigt
Zur Richtung senkrecht fallender Gewichte
Wie es uns Physik und Erfahrung zeigt
Die Sonne verströmt also weit mehr Licht, als dies die untergehende
Sonne allein tut. Vergil klärt ihn dann darüber auf, dass sich das Licht
der Sonne mit dem Licht eines, wohl vor der Sonne stehenden, Engels vermischt,
welches wiederum reflektiert wird nach dem Schema Eingangswinkel = Ausfallswinkel,
wobei allerdings in den Versen nicht steht, wo das Licht überhaupt reflektiert
wird. Weiter ist das Bild auch nicht besonders suggestiv. Schaut man direkt in
eine Lichtquelle, also z.B. in eine Taschenlampe, dann spielen die Strahlen, die
über Reflexion das Auge erreichen, kaum eine Rolle. (Die These, dass der
Engel selbst das Licht der Sonne reflektiert, können wir ausschalten. Denn
erstens bewegen sich Dante und Vergil tatsächlich in Richtung des Sonnunterganges,
wo immer der bei Dante auch sein mag, und zweitens würde das Licht durch
die Reflexion auch nicht heller.) Weiter kann das auch nur funktionieren, wenn
es sich um einen gerichteten Lichtstrahl handelt. Wir nehmen zur Kenntnis, dass
Dante eine Zusammenfassung der Katoptrik des Euklid (365-300 vor Christus) gelesen
hat (das Orginal ist nicht überliefert), da wir aber nicht wissen, was er
gelesen hat und da er bestimmte Zusammenhänge lediglich andeutet, können
wir auch nicht entscheiden, ob er das Gelesene richtig wiedergibt oder beurteilen,
wie tief er es verstanden hat. Offensichtlich sieht Dante einen Zusammenhang zwischen
der Reflexion fester Körper und der Reflexion von Licht. (Verse in der Übersetzung
von Zoozmann oben.)
Come quando da l'acqua o da lo specchio
salta lo raggio a l'opposita parte,
salendo su per lo modo parecchio
a quel che scende, e tanto si diparte
dal cader de la pietra in igual tratta,
sì come mostra esperienza e arte;
Wie wenn vom Wasser oder Spiegel
der Strahl springt zur entgegengesetzten Seite
es verlassen in derselben Art
wie es auf der anderen Seite eingetreten
sich also ganz so wie ein Stein bewegt
was uns Erfahrung und Wissenschaft beweist
Dass sich ein Lichtstrahl genauso verhält wie ein Stein, den man beispielsweise
übers Wasser hüpfen lässt (dann ist Einfallswinkel = Ausfallswinkel),
ergibt sich zwar nicht aus der Erfahrung, da Licht diffus ist, sondern nur aus
einer theoriegeladenen Versuchsanordnung, aber ungefähr stimmt es wohl, wenn
auch die moderne Physik sehr viel komplexere Modelle entwickelt hat. Das Problem
bei dem Bild ist, dass es nicht suggestiv ist, denn wir beobachten das nur, in
einem kontrollierten Umfeld, in einem Experiment. Es ging Dante wohl darum, uns
um jeden Preis seine Gelehrsamkeit vor Augen zu führen.
Nicht wundre dich, geblendet noch zu sein
Wenn Gottes Diener naht, so belehrte mich
Vergil, und dich lädt zum Aufstieg ein
Jetzt erfährt Dante, woher das Licht stammt. Es stammt von einem Engel.
Und als wir aufwärts stiegen im Verein
Klang‘ s: „Selig sind die Barmherzigen!“ und „Weide
am Sieg dich!“ im Gesang uns hintendrein
Mit „Selig sind die Barmherzigen“ wird auf die Matthäus
5, 7 angespielt (Bergpredigt): „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden
Barmherzigkeit erlangen.“ Das „weide dich am Sieg“ ist nicht
zuordenbar, wahrscheinlich geht es aber um den Sieg über sich selbst, den
ewigen Adam oder sowas in der Art.
Dante und Vergil steigen nun empor zur dritten Terrasse.
Mein Pädagog und ich, wir strebten beide
allein empor, ich hoffte drum, im gehen
Durch ein Gespräch auf nützlichen Bescheid
Wieso Zoozmann das nun gar nicht mittelalterliche Wort Pädagog verwendet,
ist schleierhaft, die italienischen Verse lauten so.
Lo mio maestro e io soli amendue
suso andavamo; e io pensai, andando,
prode acquistar ne le parole sue;
Mein Lehrer und ich wir schritten beide
hinauf und ich beim Gehen dachte,
dass ich aus seinen Worten Nutzen ziehen könnte
Vergil erklärt ihm dann den tieferen Sinn der Worte Guido del Ducas
aus dem vorherigen Gesang:
Aus solcher Saat erwuchs mir solches Stroh
Was hängt an Gütern, die nur immer einer
Genießen kann, das Herz euch Menschen so?
Der Gedanke, der dann kommt, ist sogar mal ganz hübsch:
Weil ihr euch pflegt an Gütern zu vergnügen,
Die Mitbesitz verringert, bläst der Neid,
Um neue Seufzer alten zuzufügen
Allerdings kommt dann wieder eine recht „scholastische“ Erklärung
und man versteht nach der Lektüre die Worte Goethe besser.
Nachher, vor allen andern Sachen,
Müßt Ihr Euch an die Metaphysik machen!
Da seht, daß Ihr tiefsinnig faßt,
Was in des Menschen Hirn nicht paßt;
Für was drein geht und nicht drein geht,
Ein prächtig Wort zu Diensten steht.
Doch vorerst dieses halbe Jahr
Nehmt ja der besten Ordnung wahr.
Fünf Stunden habt Ihr jeden Tag;
Seid drinnen mit dem Glockenschlag!
Habt Euch vorher wohl präpariert,
Paragraphos wohl einstudiert,
Damit Ihr nachher besser seht,
Daß er nichts sagt, als was im Buche steht;
Doch Euch des Schreibens ja befleißt,
Als diktiert, Euch der Heilig Geist!
Faust, Mephistopheles zum Schüler
Dass eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber Dingen und der Fetischcharakter
der Dinge dem menschlichen Miteinander abträglich ist, wäre auch an
sich verständlich gewesen, das theologische Geblubbere wirkt etwas an den
Haaren herbeigezogen. Inwiefern der mittelalterliche Mensch an sich zu authentischen,
spontanen Gefühlen unfähig war, oder ob sich nur Dante ständig
an einem Gerüst entlang hangelt, ist unklar.
Die Argumentation Vergils zerfällt nun in zwei Teile. Die erste Versuch Vergils,
Dante zu erklären, warum es Dinge gibt, die reicher machen, je mehr man sie
teilt, überzeugt Dante nicht richtig.
Doch wenn nach oben sich, zur Herrlichkeit
Des Himmels wenden würde euer Sehnen
Blieb eure Brust von dieser Angst befreit
Je mehr vom gleichen Gute dort entlehnen
Je mehr wird jeglichem davon beschieden
Je mehr wird sich ihr Herz in Liebe dehnen
Anzunehmen ist, dass es eine vertiefende Überlegung zu Matthäus
22,32 ist: „Da aber die Pharisäer hörten, wie er den Sadduzäern
das Maul gestopft hatte, versammelten sie sich. Und einer unter ihnen, ein Schriftgelehrter,
versuchte ihn und sprach: Meister, welches ist das vornehmste Gebot im Gesetz?
Jesus aber sprach zu ihm: "Du sollst lieben Gott, deinen HERRN, von ganzem
Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte." Dies ist das vornehmste
und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich: Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen zwei Geboten hängt das ganze
Gesetz und die Propheten.“
Also wenn sich alle das gleiche Gut, die Liebe, vom Himmel holen, werden alle
reicher, denn dieses Gut macht ja langfristig nur Spaß, wenn es auf Gegenliebe
stößt. Das wiederum stellt Dante nicht zufrieden, und hier ist er sogar
mal authentisch, denn Dante klammert sich verzweifelt an sein System, spontan
kapiert er gar nix.
Nur halb stellt deine Antwort mich zufrieden
Sprach ich, und zweifelnd tiefer sinkt mein Mut
Als wenn ich alles Fragen hätt vermieden
Bei der Erklärung, die Vergil dann gibt, steigt aber nicht nur Dante
auf (..ist dies zu verstehen, dir noch zu schwer) sondern auch alle Übersetzer,
denn die Übersetzung ist dann weitgehend sinnfrei und hat nur einen losen
Zusammenhang zu den italienischen Versen.
Und er: „Weil du den Sinn auf Erdendinge
Beständig heftest, bleibt dir unverkennbar
Das Licht und wähnst, dass Dunkel dich umfinge
Das Gut, das unerschöpflich und untrennbar
Vereint sich droben mit der Seligkeit
Wie Licht dem Spiegelglas verschmilzt untrennbar
Die italienischen Verse lauten so
Ed elli a me: «Però che tu rificchi
la mente pur a le cose terrene,
di vera luce tenebre dispicchi.
Quello infinito e ineffabil bene
che là sù è, così corre ad amore
com‘ a lucido corpo raggio vene.
Und er zu mir: “Weil du den Sinn nur richtest
auf irdisch Dinge
das wahre Licht für dich scheint Dunkelheit
Dies Unendliche und unsagbar Gute
das dort sich findet, geht zur Liebe
wie der Strahl sich heftet an die hellen Körper
Vergil „argumentiert“ also auf zwei Schienen. Wenn alle lieb
sind, dann kriegen sie auch alle nur Liebe, das ist also wie in dem Sprichwort
„wie man in den Wald hinein schreit, so kommt es heraus“. Die zweite
Schiene ist dann, dass die, die von Liebe erfüllt sind, noch viel mehr Liebe
empfangen. Und auch die letzte Terzine ist falsch übersetzt.
Je mehr in Eintracht droben sich gesellen
Je mehr gibt‘ s Grund zur Liebe und je mehr
Wird man, einander spiegelnd, sich erhellen
Im Original lauten die Verse so.
Tanto si dà quanto trova d'ardore;
Sì che, quantunque carità si stende,
cresce sovr'essa l'etterno valore.
Das gibt dann
Soviel man gibt, soviel Zuneigung wird man finden
so dass, mit jeder Barmherzigkeit die gegeben
der ewige Wert derselben wird gehoben
Das ist dann ein weiteres Argument. Also a) die Liebe ist nur gut, wenn
sie auf Gegenliebe stößt, bzw. stirbt irgendwann, wenn sie es nicht
tut, b) die Liebe geht auch zur Liebe, wie die Strahlen zu den hellen Körpern
und c) der Prozess der gegenseitigen Liebe schaukelt sich hoch. Wer das jetzt
nicht begriffen hat, muss auf Beatrice warten, das tun wir gerne, schon die ganze
Zeit.
Ist dieses zu verstehen dir noch zu schwer
So tilgt dir Beatrice bald im Herzen
Dies und noch manches andere Begehr
Dann warten wir also mal auf Beatrice.
Nur die fünf Male trachte auszumerzen
Wie schon verheilt der Wunden erstes Paar
Du weißt: Sie schließen sich, nur wenn sie schmerzen
Man kann das ohne weiteres nachvollziehen, auch wenn man fest annehmen
darf, dass Dante an irgendeinen Bibelvers dachte, denn ohne scholastische Absicherung,
sagte er keinen Ton. Es ist aber naheliegend, dass eine Sünde nur gebüßt
werden kann, wenn die Einsicht vorhanden ist, dass es Unrecht war und diese Einsicht
auch schmerzt.
Schon wollt ich sagen: Jetzt versteh ich‘ s klar
Da standen wir am drittn Kreis hoch oben
Wo Schaulust schuld an dem Verstummen war
Sie sind nun also auf der dritten Terrasse angelangt. Hier büßen
die Zornigen. Da, immer in der Logik des contrapasso, der Zorn ihre Sicht auf
die Welt verfälschte, leben sie hier eingehüllt in eine dunkle Wolke.
Doch bevor auch Dante und Vergil von dieser eingehüllt werden, folgen erst
noch zwei exemplarisch Tobende, wobei wir das erste Bild nicht so richtig zuordnen
können.
Ein Weib in mütterlicher Sorge nahn
Das sprach vorwurfsvoller Schmerzgebärde:
„Mein Sohn, warum hast du uns das angetan?“
Bezug genommen wird wohl auf Lukas, 2 Kapitel, 33ff: Und da sie alles vollendet
hatten nach dem Gesetz des HERRN, kehrten sie wieder nach Galiläa zu ihrer
Stadt Nazareth. Aber das Kind wuchs und ward stark im Geist, voller Weisheit,
und Gottes Gnade war bei ihm. Und seine Eltern gingen alle Jahre gen Jerusalem
auf das Osterfest. Und da er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf gen Jerusalem
nach der Gewohnheit des Festes. Und da die Tage vollendet waren und sie wieder
nach Hause gingen, blieb das Kind Jesus zu Jerusalem, und seine Eltern wußten's
nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine
Tagereise weit und suchten ihn unter den Gefreunden und Bekannten.
Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wiederum gen Jerusalem und suchten ihn.
Und es begab sich, nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel sitzen mitten unter
den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten,
verwunderten sich seines Verstandes und seiner Antworten. Und da sie ihn sahen,
entsetzten sie sich. Seine Mutter aber sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du
uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.Und
er sprach zu ihnen: Was ist's, daß ihr mich gesucht habt? Wisset ihr nicht,
daß ich sein muß in dem, das meines Vaters ist? Und sie verstanden
das Wort nicht, das er mit ihnen redete. Und er ging mit ihnen hinab und kam gen
Nazareth und war ihnen untertan. Und seine Mutter behielt alle diese Worte in
ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den
Menschen.
Da Maria weder besonders zornig noch besonders sanftmütig war, ist relativ
schleierhaft, warum Dante sie hier anführt. Das Beispiel ist weder geeignet,
Zorn zu illustrieren, noch das Gegenteil, Sanftmut. Er hätten sich aus dem
reichhaltigen Arsenal griechisch / christlicher vom Zorn Entflammter auch bessere
Beispiele finden lassen. Auch das nächste Beispiel ist nicht so richtig schön
tobsüchtig und auch nicht besonders sanftmütig.
So räche jenes Arms Verwegenheit,
Der unsere Tochter wagte zu umfassen
Doch Pisistrat schien gegen Zorn gefeit
Die Quelle dieser Geschichte kann entweder der Geschichtsschreiber Herodot
oder Aristoteles sein. Pisistratus war im Zeitraum zwischen 560 bis 527 v.Chr.
Alleinherrscher in Athen, mit Unterbrechungen. Obwohl als Tyrann tituliert, schneidet
er in den Geschichtsbüchern aufgrund seiner der Gemeinheit verpflichteten
Politik positiv ab. Die Terzine Dante bezieht sich auf einen Mann, der die Tochter
des Pisistratus anbaggerte. Die Frau des Pisistratus wollte, dass dieser Mann
bestraft werde, Pisistratus tat dies nicht.
Ein besseres Beispiel für Sanftmut ist Stephanus, der erste Märtyrer.
Zu Boden brechen sah ich den Gepeinigten
Dem Tode nah; doch mit des Himmel Toren
Die Augen im Gebete sich vereinigen
Als bäte sterbend er vor Gottes Ohren
Gott möge seinen Peinigern verzeihen
Mit Blicken, wie sie Mitleid stets beschworen
Erzählt wird die Geschichte in der Apostelgeschichte Kapitel 7. Den
Anhänger Jesu wird vorgeworfen, die Juden dazu aufzurufen, den Propheten
nicht mehr zu folgen. Nachdem Stephanus den Versammelten die Geschichte des Volkes
Israel erzählt hat und sie darauf aufmerksam gemacht hat, dass sie selbst
dem Propheten (Moses) öfter mal nicht folgten, steinigen sie ihn.
Da sie solches hörten, ging's ihnen durchs Herz, und sie bissen die Zähne
zusammen über ihn. Wie er aber voll heiligen Geistes war, sah er auf gen
Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesus stehen zur Rechten Gottes; und
sprach: Siehe, ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes
stehen. Sie schrieen aber laut und hielten ihre Ohren zu und stürmten einmütig
auf ihn ein, stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Und die Zeugen
legten ihre Kleider ab zu den Füßen eines Jünglings, der hieß
Saulus und steinigten Stephanus, der anrief und sprach: HERR Jesu, nimm meinen
Geist auf! Er kniete aber nieder und schrie laut: HERR, behalte ihnen diese Sünde
nicht! Und als er das gesagt, entschlief er.
Als ich sie fühlte meinen Geist befrein
Zur Wirklichkeit und zu der Umwelt Dingen
Sah ich die Täuschung, die kein Trug war ein
Die Übersetzung ist etwas grenzwertig. Das italienische Orginal lautet
so.
Quando l'anima mia tornò di fori
a le cose che son fuor di lei vere,
io riconobbi i miei non falsi errori
Was dann folgendermaßen zu übersetzen ist.
Als mein Bewusstsein sich nach außen wieder wandte
den Dingen zu, die außerhalb seiner wirklich sind
erkannte ich meine nicht mal falschen Fehler
Das geht jetzt so. Sein Bewusstsein schaute ein Trugbild; als sich aber
ein Bewusstsein oder seine Aufmerksamkeit wieder der Wirklichkeit zuwandte, erkannte
er, dass in den Trugbildern eine Wahrheit steckte.
Diese Idee, also dass man „im Innern“ seiner selbst eine Wahrheit
findet, wird dann im folgenden Gespräch zwischen Vergil und Dante nochmal
vertieft.
Dass du es sahst, geschah, dass sich mit keinen
Fasern dein Herz verschlöss der Friedensflut
Die aus der Quelle strömt, der ewig reinen
Auch hier lohnt es sich, sich das italienische Orginal anzuschauen.
Ciò che vedesti fu perché non scuse
d'aprir lo core a l'acque de la pace
che da l'etterno fonte son diffuse.
Was du sahst geschah, damit du nicht verneinst
dein Herz den Friedensströmen aufzuschließen
welche strömen von der ewigen Quelle
Anzunehmen ist, dass mit dem „acque de la pace“ auch auf irgendeine
biblische Geschichte Bezug genommen wird, leider hat der Autor die Stelle nicht
gefunden.
Nach dieser inneren Schau, sehen sie dann die Wolke, in die sich die befinden,
die der Zorn hat erblinden lassen.
Sieh! Da begann uns mählich zu umziehen
Ein Rauch, der schwarz wie Nacht sich rings erstreckte
Dass wir ihm nirgends wussten zu entfliehen