Wer ist es, der hier unsern Berg umschreitet
Eh ihn der Tod beschwingt? Der nach Behagen
Die Augen bald verschließt, bald wieder weitet

Voranschreitend hören Dante und Vergil, wie sich zwei Büßende über sie unterhalten. Sie fragen Dante, wie er heiße, worauf dieser ihnen erwiderte, dass die Nennung seines Namens sinnlos wäre, weil er nicht so bekannt sei, dass sie ihn kennen könnten. Später wird dies noch eine Rolle spielen, denn als Dante nach ihrem Namen fragt, werden sie ihm vorhalten, dass er etwas von ihnen verlange, was er selber nicht zu tun geneigt war.

Und ich: Quer durch die Toskana zieht die Pfade
Ein Flüsschen, das dem Falteron entspringt
Und hundert Meilen braucht, bis zum Gestade.

Gemeint ist der Arno. Dieser entspringt in den Apeninnen, genau genommen am Berg Falteron, und ergießt sich ins Ligurische Meer.

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Da die zwei Büßenden im Gegensatz zu uns Dante noch nicht kennen, vermuten sie hinter dieser verklausulierten Darstellung einen tieferen Sinn. Wir aber wissen, dass Dante sich grundsätzlich verklausuliert ausdrückt.

Worauf der zweite flüsterte: Weswegen
Vermied er‘ s nur, den Namen zu verkünden?
Kann solcher Abscheu ihm der Fluss erregen?

Wir werden später erfahren, dass derjenige, der jetzt zu einem längeren Monolog anhebt, in dem er die Verderbtheit der Völker schildert, die am Arno wohnen, Guido del Duca heißt, und wir werden ihn später dann auch vorstellen.

Des Hochgebirges quellenfeuchte Wände
Und sich Pelor abtrennt im steilen Schusse
Dass sonst kein Ort so wasserreich sich fände

Bis dahin, wo er neuersetzt im Gusse
Was aus der Meerflut sog der Himmel schon
Von der die Nahrung herstammt jedem Flusse

In dem oben beschriebenen Flussabschnitt, so ganz klar steht noch nicht vor unserem geistigen Auge, um welchen Abschnitt es sich handelt, wird die Tugend verfolgt wie eine Viper; die Leute weiden dort wie die Schweine auf der Heide, also wie bei Homer, wo die Genossen des Odysseus von Kirke in Schweine verwandelt wurden, wobei diese Schweine aber noch schlimmer sind, denn sie fressen Menschen und keine Eicheln. Die Frage ist nur, um welchen Flussabschnitt handelt es sich? Die Übersetzung von Zoozmann ist leider etwas sinnentleert, schauen wir uns also das Orginal an.

ché dal principio suo, ov'è sì pregno
l'alpestro monte ond'è tronco Peloro,
che 'n pochi luoghi passa oltra quel segno,

infin là 've si rende per ristoro
di quel che 'l ciel de la marina asciuga,
ond'hanno i fiumi ciò che va con loro,

von seinem Anbeginn, wo so steil
der Berg des Falterona, von dem getrennt der Monte Falco
dass nur wenig Orte diesem Orte gleichen

bis dahin wo er sich wieder nährt
mit dem was der Himmel dem Meer entsaugt
und aus dem die Flüsse ziehen, was sie sind

Auf Deutsch soll das heißen, dass der Arno auf dem Monte Falterona (1645 m ) in den Apeninnen entspringt. Daneben ist ein anderer Berg, der Monte Falco (1658 m), und irgendwo nährt er sich dann mit Wasser, das, soviel steht fest, auf jeden Fall von oben kommt. Mit der Gegend, wo er dann Wasser erhält, ist das Arno Tal gemeint.

Nachdem ihm Nebenflüsse Zuwachs gaben
Sieht im Gefälle Wölfe rings aus Hunden
Entstehn der fluchbeladene Unglücksgraben

Wie die, vor allem italienische Kommentatoren, das schaffen, ist nicht geklärt, aber an der Stelle, wo aus Hunden Wölfe werden, sind wir in Florenz, so wird behauptet. Richtig könnte es sein, weil der Vers vorher von einem Bogen spricht, den der Arno vor Florenz ja tatsächlich macht.

Dann trifft er Kläffer, die in feiger Weise
Mehr bellen, also sie Mut zum Beißen haben
Und kehrt verächtlich sich in weitem Kreise

Danach folgen dann keine geographischen Angaben mehr, die man irgendwie zuordnen könnte. Insgesamt sind es also drei Abschnitte, die beschrieben werden, der Ursprung, das Arno Tal, Florenz und nach Florenz. Nach Florenz finden wir dann aber eine Andeutung auf eine Person.

Schon hör ich, wie der Wölfe Rudel brüllt
Weil sie dein Enkel jagt zum Zeitvertreib
Am Unglücksstrom, dass alle Schreck erfüllt

Wir werden später erfahren, mit wem sich Guido del Duca unterhält. Es ist Rinieri da Calboli. Jener hat einen Neffen, Fulcieri, der im Jahre 1303 zum Podestà von Florenz gewählt wird. Allerdings findet sich jetzt erstmals nirgends ein Hinweis, außer eben den Kommentaren zur Divina Commedia selbst, bei der immer der eine vom anderen abschreibt, dass dieser Fulcieri besonders blutrünstig gewesen sei. Fulcieri da Calboli gehört zur Adelsfamilie der Paolucci da Calboli und starb 1340, das genaue Geburtsjahr ist unbekannt. Er gehörte zur Partei der Guelfen. Schon bevor er 1303 Ratsherr (podestà) von Florenz wurde, hatte er bereits wichtige politische Ämter in Milano, Modena und Bologna inne.

Doch will ich nicht, da du erfüllst mir scheinst
Von Gottes Gnade, mit der Antwort kargen
Vernimm: Guido del Duca hieß ich einst

Guido entstammte einer adeligen Familie aus Ravenna und stand der Parteil der Ghibellinen nahe. Eine Zeitlang war er Richter. Zu der von Dante gelieferten Beschreibung seines Charakters finden sich keinerlei Anhaltspunkte.

Mein Blut war so verbrannt vom Neid, dem argen
Dass meine Wangen, sah ich Menschen froh
Im Glück, der Missgunst Blässe nicht verbargen

Mehr Berechtigung hat dann die in diesen Versen gestellte Frage.

Aus solcher Saat erwuchs mir solches Stroh
Was hängt an Gütern, die nur immer einer
Genießen kann, das Herz euch Menschen so

Die Saat ist wohl sein Neid, und das Stroh, dass ihm hieraus erwuchs, ist sein jetziger unkomfortabler Aufenthaltsort.

Vom Hause Calboli siehst du hier Rinier
Von dessen Tugend aber, dessen Ehre,
ererbte gleichen Ruhme keiner

Rinieri enstammte einer traditionell den Guelfen zugehörgen Partei aus Forlì in der Romagna. In verschiedenen Städten war er Stadtoberhaupt. Aus Forlì wurde er 1294 exiliert und starb nach seiner Rückkehr 1296 in einer Schlacht. Auch hier liegen keinerlei nähere Informationen vor, die ihn als besonders tugendhaft erscheinen liessen. Welchen Reiz das System Dantes hat, irgendjemanden als Beispiel für irgendwas hinzustellen, ohne dass dieser Jemand sich zur Illustrierung dieser Tugend bzw. Untugend besonders eignen würde oder eine differenziertere Sicht ermöglichen würde, bleibt schleierhaft. Unter Umständen war es dem mittelalterlichen Menschen nicht möglich, Individuen zu zeichnen.

Die Zeit, wo Lizio und Mainard gewandelt
Carpigna, Traversar: Sie ist vergangen
Zum Bastard ist der Romagnol verschandelt

Die Genannten sind nun Beispiele für Tugend, aber leider ist auch hier die Faktenlage äußerst dünn. Über Lizio ist gar nichts bekannt, in der Reklam Ausgabe schreibt der Kommentator Rudolf Baehr:“ Lizio da Valbona. Mann von hohen ritterlichen Tugenden, vielleicht Herr von Ravenna (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts)“. Das heißt, der Herr Baehr hat zwar keine Ahnung wer es ist, aber geht mal davon aus, dass er tugendhaft ist. Es sieht so aus, als ob die ausgiebige Lektüre Dantes bei manchen Leuten keine positive Wirkung hätte. Etwas mehr als das ungefähre Geburtsdatum ist von in den Versen genannten Personen nicht bekannt. Sie eignen sich als Beispiel für die Tugendhaftigkeit also allein deshalb, weil wir unsere eigene Tugendhaftigkeit, so vorhanden, auf diese Projektionsfläche projezieren können.

Kann heut ein Fabbro in Bologna prangen?
Kann in Faenzas Bann ein Bernardin
Aus niederm Keim zum Glanze noch gelangen?

Gleiche Liga. Die Faktenlage ist hier, wie bei den folgenden Versen so dünn, dass die Verse weitgehend sinnentleert sind.

„Totschlagen wird mich jeder, der mich findet!“
Die Stimme drauf dem Donner gleich verhallte
Wenn er sich krankend durch die Wolken windet

Wer sich die ganze Zeit schon gefragt hat, warum der allererste Neidische, sozusagen der Neider Urtyp hier nicht auftaucht, der darf sich freuen. Angespielt wird auf die Geschichte von Kain und Abel, Genesis 4, 15:“ Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen.“

Die Geschichte selbst ist etwas grotesk und geht so: Adam erkannte Eva, seine Frau; sie wurde schwanger und gebar Kain. Da sagte sie: Ich habe einen Mann vom Herrn erworben. Sie gebar ein zweites Mal, nämlich Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt und Kain Ackerbauer. Nach einiger Zeit brachte Kain dem Herrn ein Opfer von den Früchten des Feldes dar; auch Abel brachte eines dar von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß, und sein Blick senkte sich. Der Herr sprach zu Kain: Warum überläuft es dich heiß, und warum senkt sich dein Blick? Nicht wahr, wenn du recht tust, darfst du aufblicken; wenn du nicht recht tust, lauert an der Tür die Sünde als Dämon. Auf dich hat er es abgesehen, doch du werde Herr über ihn! Hierauf sagte Kain zu seinem Bruder Abel: Gehen wir aufs Feld! Als sie auf dem Feld waren, griff Kain seinen Bruder Abel an und erschlug ihn. Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein. Kain antwortete dem Herrn: Zu groß ist meine Schuld, als daß ich sie tragen könnte. Du hast mich heute vom Ackerland verjagt, und ich muß mich vor deinem Angesicht verbergen; rastlos und ruhelos werde ich auf der Erde sein, und wer mich findet, wird mich erschlagen.
Der Herr aber sprach zu ihm: Darum soll jeder, der Kain erschlägt, siebenfacher Rache verfallen. Darauf machte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihn finde. Dann ging Kain vom Herrn weg und ließ sich im Land Nod nieder, östlich von Eden.

Also der Plot hat irgendwie was von psychologischer Motivierung. Kain ist ja in seiner Würde gekränkt, weil Gott sein Opfer nicht beachtet. Da macht er dann den Bruder platt. Aber ausnahmsweise ist Gott sogar mal gnädig, schließlich hat er die Misere ja mit verursacht und stattet ihn mit dem Kainsmerkmal aus. Ich nehme an der Pfarrer in der Kirche sieht das anders, aber ich glaube, der sieht immer alles irgendwie anders als ich.

„Ich bin Aglauros, die zum Fels gefror!“
Und als ich an Virgil mich schmiegen wollte;
Wich ich erschreckt zurück anstatt nach vor

Aglaurus war die Tochter Kekrops, des ersten Königs von Athen . Über sie gibt es mehrere Legenden. Dante legt offensichtlich eine Geschicht von Ovid zugrunde. Danach wollte, in Liebe oder was auch immer entbrannt, Hermes zur Schwester von Aglaurus, Herse. Das wollte aber Aglaurus nicht, aus welchen Gründen auch immer. Da verwandelte sie Hermes flux in einen Stein.

Als still die Luft und mehr kein Donner grollte
Sprach der Poet: „Dies war der harte Zaum,
Der euch in Schranken halten sollte“

Da Dante das Jammertal der zweiten Terrasse nun hinter sich lässt und sich zur dritten Terrasse aufmacht, um aufzusteigen, ist der Vers wohl so zu verstehen, dass die ganzen Ermahnungen nötig sind, damit der Mensch nicht dem Dämon verfalle. Im nun folgenden 14. Gesang steigt er auf zur dritten Terrasse.