Dante und Vergil befinden sich nun auf der zweiten Stufe der Läuterungsberges.
Da sich der Berg nach oben hin verjüngt, ist die Terrasse, die um den Berg
herumläuft, naheliegenderweise kleiner. Im Gegensatz zur ersten Terrasse
gibt es auf der zweiten keine Bilder mehr, was auch nicht sinnvoll wäre,
denn die Bilder der ersten Terrasse, auf dem Boden, dienten dazu, den fast auf
dem Boden kriechenden Büßern geeignete Vorbilder vorzuführen,
was auf der zweiten Terrasse aber nicht gut möglich ist, denn die Büßer
sind blind, genau genommen, blind gemacht worden, denn ihre Augen sind zugenäht.
Immer in der Logik des Contrapasso, der zur Sünde adäquaten Strafe,
sind sie blind, weil sie im Leben zuviel schauten, insbesondere nach den Reichtümern,
Erfolgen anderer, denn hier büßen die Neidischen.
Da nahm er, fest zur Sonnenscheibe sehend
Zum Wendepunkt des Körpers rechte Seite
Und schwenkte um, die linke Hüfte drehend
Das versteht natürlich kein Mensch, aber heißen soll es eigentlich
nur, dass er sich der Sonne zugewandt hat und sie in Richtung Sonne nun weitergehen.
Die erste Stimme, die ans Ohr uns schlug
Sie rief: Vinum non habent! – deutlich schallten
Die Worte und dann abermals im Flug
Da man auf der zweiten Terrasse die Büßenden mit Bildern nicht
ermahnen kann, aus den oben dargestellten Gründen, gibt es hier Stimmen,
die die gleiche Funktion haben, wie auf der ersten Terrasse die Bilder. Die Übersetzung
ist etwas frei, im italienischen Orginal geht das so.
La prima voce che passò volando
"*Vinum non habent*" altamente disse,
e dietro a noi l'andò reiterando.
Die erste Stimme, die vorüberflog
sagte laut „Vinum non habent“
und entwich, hinter uns es wiederholend
Das heißt dann im Umkehrschluss, dass sich die Geister mit dem Uhrzeigersinn
bewegen, denn sie kommen von vorne, während Dante und Vergil sich gegen den
Uhrzeigersinn bewegen. Im Grunde ist das aber egal. „Vinum non habent“
sagt Maria auf der Hochzeit zu Kana, Evangelium des Johannes 2. Kapitel.
Und am dritten Tag ward eine Hochzeit gefeiert zu Kana in Galiläa; und die
Mutter Jesu war da. Jesus aber und seine Jünger wurden auch auf die Hochzeit
geladen. Und da es an Wein gebrach, sprach die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben nicht
Wein. Jesus spricht zu ihr: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Meine Stunde
ist noch nicht gekommen.Seine Mutter sprach zu den Dienern: Was er euch sagt,
das tut. Es waren aber allda sechs steinerne Wasserkrüge gesetzt nach der
Weise der jüdischen Reinigung und ging in je einen zwei oder drei Maß.Jesus
sprach zu ihnen: Füllet die Wasserkrüge mit Wasser! Und sie füllten
sie bis obenan. Und er sprach zu ihnen: Schöpfet nun und bringet's dem Speisemeister!
Und sie brachten's. Als aber der Speisemeister kostete den Wein, der Wasser gewesen
war, und wußte nicht, woher er kam (die Diener aber wußten's, die
das Wasser geschöpft hatten), rief der Speisemeister den Bräutigam und
sprach zu ihm: Jedermann gibt zum ersten guten Wein, und wenn sie trunken geworden
sind, alsdann den geringeren; du hast den guten Wein bisher behalten. Das war
das erste Zeichen, das Jesus tat, geschehen zu Kana in Galiläa, und offenbarte
seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn.
Anzunehmen ist, dass Theologen das anders sehen, aber vordergründig klingt
das erstmal so, dass die Jünger eindeutige Beweise brauchten, um zu glauben,
was ja erstmal sympathisch ist. Wäre die Kirche diesem Trend gefolgt, wäre
uns viel Unheil erspart geblieben.
Und ehe sie im Ohre mir verhalten
Fiel eine zweite ein: Orestes bin ich!
Und eilte fort. „O Vater sprich: Wem galten diese Stimmen“
Orest ist jener Bekannte, den wir noch aus der Schule kennen, aus der Iphiginie
auf Tauris („Das Land de Griechen, mit der Seele suchen“). Will man
aber wissen, was der hier verloren hat, muss man ein bisschen weiter ausholen.
Also die Sache ist wahnsinnig kompliziert, der Plot ist ziemlich abwegig, aber
kompliziert.
Orest, Iphiginie und Elektra waren die Kinder von Agamemnon und Klytaimestra.
Agamemnon zog nun in den trojanischen Krieg wegen des Luders Helena. Da sagte
sich natürlich Klytaimnestra, dass, wenn sich der Typ wegen einer anderen
Frau 10 Jahre aus dem Staub machte, sie sich doch einen anderen suchen könne.
Das machte sie dann und heiratete Aigisthos. Nachdem sich Agamemnon dann in Troja
ausgetobt hatte, kam er zurück. Da der Gatte störte, brachte sie ihn
um. Eine ziemlich miese Tour war das, was Aigisthos dann machte (auf dem haftet
aber auch immer noch der Fluch der Tantaliden, das ist die Geschichte mit dem
Pelops, den die Götter fast verfrühstückt hätten). Der wollte
nämlich auch Orest umbringen. Das verhinderte aber seine Amme Geilissa. Sein
Schwesterherz Elektra schickte ihn dann zu Anaxibia, der Schwester des Agamemnon,
wo er zusammen mit Pylades, auf den kommt es im Zusammenhang mit den Versen entscheidend
an, erzogen wird. Desweiteren trug sie ihm auf, die Ermordung des Vaters zu rächen.
Groß geworden, kehrte er nach Mykene zurück und tötete sowohl
seine Mutter Klytaimnestra wie auch den Finsterling Aigisthos. Daraufhin verfolgten
ihn die Erinyen, die Rachegöttinen (die gehören zum Urschleim der griechischen
Mythologie, sie entstanden aus den Blutstropfen, die auf die Erde tropften, als
Kronos seinen Papa Uranus entmannte). Das Orakel von Delphi weissagte ihm, dass
die Erinnyen ihn nur dann in Ruhe liessen, ihn also nicht in den Wahnsinn treiben
würden, wenn er bei den Tauren aus einem Tempel eine Statue klauen und sie
nach Griechenland schaffen würde. Hüterin dieses Tempels war aber seine
Schwester Iphiginie, die von Agamemnon (also der Typ war auch nicht ganz koscher;
dass Klytaimnestra ihn ermorderte, geht eigentlich in Ordnung) geopfert wurde,
als vor Tauris Windstille herrschte, um so die Götter zu besänftigen.
Sie wurde aber im letzten Augenblick nach Tauris entrückt. Nach einigem Hin
und Her erkannten sich die Geschwister und konnten durch eine List von Tauris
fliehen. Angespielt wird in dem Vers von Dante auf die enge Freundschaft zwischen
Orest und Pylades.
„Die Stimmen?“ sprach ich da, „vergebens
sinn ich
Den Worten nach.“ – Da rief schon eine Dritte:
Liebt, die euch wehgetan! Da klang so innig
Angespielt wird das Evangelium des Matthäus, 5, 44: Ihr habt gehört,
dass gesagt ist: "Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind
hassen." Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen;
tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen,
auf daß ihr Kinder seid eures Vater im Himmel; denn er läßt seine
Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt
regnen über Gerechte und Ungerechte.“
Und er: „Gegeißelt in des Ringwalds Mitte
Wird hier des Neides Schuld und Liebe schwingt
Die Geißelriemen, doch von anderer Sitte
Die Verse sind so erstmal unverständlich, da fehlerhaft übersetzt.
Das italienische Orginal lautet so.
E 'l buon maestro: «Questo cinghio sferza
la colpa de la invidia, e però sono
tratte d'amor le corde de la ferza
Und der gute Meister sagte: Die Kreis betraft
die Sünde des Neides, doch sind
Zeichen der Liebe, die Stricke der Buße
Soll heißen, dass in dem Kreis zwar der Neid gebüßt wird,
aber die Strafe doch ein Zeichen der Liebe ist (schließlich dient sie der
Sühne und damit dem Weg ins Paradies).
Und Art der Zügel ist, der rauher klingt
Du wirst ihn hören, eh im Weiterschreiten
Dein Fuß zum Passe der Vergebung dringt
Auch diese Übersetzung ist sehr frei und irgendwie sinnfrei. Das italienische
Orgial ist das.
Lo fren vuol esser del contrario suono;
credo che l'udirai, per mio avviso,
prima che giunghi al passo del perdono
Die Ermahnung wird sein von einem anderen Ton
ich glaube fest du wirst, von mir gelenkt, sie hören
bevor du noch erreicht, das Tor des Verzeihens
Das geht dann in dieselbe Richtung wie der Vers oben. Bevor er zur nächsten,
also dritten Terrasse emporsteigt (Tor des Verzeihens, weil ein weiteres P gelöscht
wird), wird er ermahnt werden. Doch diese Ermahnung ist nicht von Neid und Hass
geprägt, sondern vom Gegenteil.
So harten Herzens wird auf Erden gehen
kein Mensch zur Stunde, der des Mitleids bar
Sich fände, wenn er säh, was ich gesehen
Soll heißen, dass es auf Erden niemanden gibt, der nicht Mitleid
hätte, wenn er das sehen würde, was Dante sieht. Diese Schatten büßen
hier ihren Neid, und weil sie auf der Erde zuviel schauten, insbesondere Dinge
anschauten, die sie nicht hätten anschauen sollen, sind ihre Augen zugenäht.
Das Problem, das wir mit den folgenden Büßern haben und das uns schon
etliche Male begegnet ist, ist die Illustrierung dieser „Sünde“
am ungeeigneten Objekt und das der schematischen Charaktere der Darstellung. Inwiefern
auch ein Mensch des Mittelalters durch simples Nachdenken zu einem differenzierteren
Urteil hätte kommen können, wissen wir nicht. Dazu müsste man wissen,
wie der „gesunde Menschenverstand“ damals tickte. Bei Dante allerdings
scheint das extensive Studium theologischer Schriften den gesunden Menschenverstand
hinweggepustet zu haben. Denn Neid kann auch Ehrgeiz sein, kann mit dem Empfinden
vermischt sein, dass etwas ungerecht ist und last not least, können auch
komplexere psychologische Strukturen den „Neid“ bedingen. Besonders
sensible Menschen, werden ihre Unzulänglichkeit oft erkennen, werden relativ
oft ihre Grenzen spüren und versuchen, diese zu beseitigen. Nur die völlige
Dumpfbacke ist nie neidisch. Das Problem Dantes ist, dass er die ganze Welt durch
das starre Schema seines Weltbildes betrachtet. Manchmal ist es besser, man lässt
die Bücher Bücher sein und denkt selber nach. Um mal ein Beispiel zu
geben, was man Schönes und Tiefsinniges zu diesem Thema sagen kann, ein Zitat
von Goethe.
Wahrhaft hochschätzen kann nur
Wer sich nicht selbst sucht
Die Abhandlung eines theologischen Systems in Versform ist weder schön, noch
tiefsinnig. Dante fordert nun die Büßer auf, ihm zu sagen, ob einer
von ihnen aus dem Lande der Lateiner ist, damit meint er wohl das Gebiet des heutigen
Italien. Da aber, sieht man von den Figuren aus der Mythologie ab, bislang alle
aus Italien waren, können wir davon ausgehen, dass auch diese aus Italien
sind.
„O Bruder, jede hier ist Bürgerin
Der einen wahren Stadt, du willst wohl fragen:
Ging sie einst pilgernd durch Italien hin?“
Soll heißen, dass alle, die hier sind, erstmal Bürger der einen
Stadt sind, nämlich dem Reich Gottes, womit dann die Frage Dantes falsch
gestellt ist. Was er wissen wollte, so der antwortende Büßer, sei,
ob es jemanden gäbe, der beim Durchmarsch zu dieser einen Stadt auch mal
Halt in Italien gemacht habe.
Wo harrend stand ein Geist mit offenem Ohr
Und fragt ihr, wie er‘ s anfing, dies zu zeigen?
Er hielt nach Blindenart sein Kinn empor
Ein gewisse exakte Phantasie kann man Dante von Zeit zu Zeit nicht absprechen.
Normalerweise richten ja Leute die Augen auf einen, wenn sie ein Gespräch
beginnen. Das geht bei Blinden nicht, sie können nur das Kinn heben. Allerdings
werden sie wohl auch das Gesicht dem Angesprochenen bzw. dem Ansprechenden zuwenden.
Sapia hieß ich, und mein sündig Streben
So rief der Geist, büß ich in diesem Kreise
Und flehe weinend um ein selig Leben
Hier ist ein kleines Wortspiel, das sich nicht übersetzen lässt,
die italienischen Verse lauten so.
Savia non fui, avvegna che Sapia
fossi chiamata, e fui de li altrui danni
più lieta assai che di ventura mia.
Klug war ich nicht, auch wenn Sapia
man mich nannte, anderer Unheil glücklicher
mich noch stimmte, als die Freuden, die ich selbst genoss
Das Wortspiel Savia (klug) und Sapia (ihr Name) kann nicht ins Deutsche
übertragen werden. Was genau sie in diesen Kreis verpflanzt hat, ist unklar.
Geboren wurde sie um etwa 1210 in Siena, gehörte der gleichen Familie an,
wie der weiter oben erwähnte Salvani (der, der auf dem Marktplatz in Siena
Geld einsammelte und sich demütigte). Aus irgendwelchen Gründen wurde
sie aus Siena verbannt und lebte im Exil in der Nähe von Colle de Val d'
Elsa, wo schlussendlich das kaisertreue Siena von Florenz geschlagen wurde. Nachgesagt
wird ihr, dass sie sich über die Niederlage ihrer Landsleute freute, warum
und wie auch immer.
Diese Verse sind dann wieder etwas unverständlich.
Und als ich sah, wie sie zur Flucht sich wanden
Wie sie der Feind zu Paaren trieb und jagte
Da füllte mich‘ s mit einem niegekannten
Behagen, dass ich dreist zu rufen wagte:
„Jetzt fürcht ich, Gott, dich ferner nicht hienieden“,
Der Amsel gleich, als flüchtge Wärme tagte
Die Amsel, die Gott nicht mehr fürchtet, ist eine Anspielung auf eine
Fabel. Als es Frühling wurde, glaubte eine Amsel den Schutz Gottes nicht
mehr zu bedürfen, weil es ja jetzt warm war, vergaß dabei allerdings,
dass auch wieder kalte Tage kommen werden.
Wenn nicht Pier Pettinajo stets aufs neue
In sein Gebet mich eingeschoben hätte
Aus Nächstenliebe mit beständiger Treue
Wie genau der Zusammenhang zwischen Sabia und Pier Pettinajo ist, bleibt
unklar. Pier Pettinajo (Pettinaio = Kammmacher, so hieß er, weil er Kämme
verkaufte) war ein Franziskanermönch. Er starb 1289 und wurde als Heiliger
verehrt.
Bei meinem eiteln Volk! Vertrauen zu schenken
Verführt‘ s jetzt Telamon: in größere Qualen
Als der Dianaquell wird sie‘ s versenken
Angespielt wird auf den Versuch der Sienesen, einen Hafen zu erhalten.
Sie kauften hierfür einen kleinen Hafen, Talameno am tyrrhenischen Meer.
Allerdings lag der inmitten eines malariaverseuchten Sumpfgebietes, so dass er,
ungeachtet der Summen, die man investierte, nie genutzt werden konnte. Vorher
hatten sie in einem anderen Projekt schon viel Geld verloren, sie suchten nach
einem unterirdischen Fluss, Dianaquell, um so der notorischen Wasserknappheit
abzuhelfen.