Die Stunde war‘ s, wo voll von Heimwehtrieben
Des Schiffers weiches Herz in Sehnsucht schwimmt
Am Tag, da weinend er verließ die Lieben

Das ist jetzt ein bisschen schwer verständlich. Es geht auf jeden Fall um die Abenddämmerung, aber die erweicht das Herz wohl nicht am Tage. Weiter ist nicht klar, ob die abfahren oder bereits auf hoher See sind. Das italienische Orginal sieht so aus.

Era già l‘ora che volge il disio
ai navicanti e 'ntenerisce il core
lo dì c'han detto ai dolci amici addio;

Verständlicher wäre es so:

Es war die Stunde zu der die Wehmut
sich den Schiffern zuwendet, das Herz erschüttert
jenen, die Abschied nahmen, von den teuren Freunden

Also es geht um die Schiffer, die auf hoher See sind und sich in der Abenddämmerung an den Moment erinnern, als sie von ihren Freunden Abschied genommen haben.

Da sah ich, nicht mehr lauschend dem Gesange
Wie eine von den Seelen sich erhoben
Und Winke gab, dass sie Gehör verlange


Der Gesang, den Dante sich entfernend hört, ist das Salve Regina aus dem siebten Gesang. Wer die Seele ist, die in das Blickfeld Dantes gerät, bleibt unklar. Auf jeden Fall beginnt sie zu singen, und in diesen Gesang stimmen die anderen ein.

Te lucis ante scholl‘ s aus ihrem Munde
So süß und mit so andachtvollem Preise
Dass ich darob mich selbst vergaß zur Stunde

Gemeint ist die eine Hymne, die dem Bischoff von Mailand zugeschrieben wird (geb. 339, gest. 397).

Die nächsten Verse sind dann etwas unklar.

Willst Du die Wahrheit, Leser, jetzt erringen
Schärf deinen Blick! So zart spinnt sich der Schleier
Dass du die leichte Hülle kannst durchdringen

Der Schleier ist eine allegorische Darstellung der Allegorie. Irgendein Zusammenhang wird also bildhaft und zuspitzend dargestellt, fragt sich nur noch welcher. Unter Umständen bezieht er sich auf die Schwerter der Engel, die stumpf sind.

Sternklarer Höhe schwebten niedersteigend
Zwei Engel, deren Schwerter Flammen schossen,
Doch stumpf nur waren, keine Spitze steigend

Diesen Vers finden wir dann folgendermaßen in der Literatur erklärt: Die zwei Schwerter, die Flammen schossen,sind das Symbol der Gerechtigkeit Gottes, und stumpf sind sie, weil Gottes Gerechtigkeit auch Barmherzigkeit ist (Dante Alighieri, Divina Commedia, Übersetzt von Hermann Gmelin, Anmerkungen von Rudolf Bahr, Reclam, Stuttgart, 2006).
Das wirft jetzt natürlich Fragen auf. Erstens, ob sich die Hülle des Schleiers tatsächlich durchdringen lässt, zweitens, ob es tatsächlich wertvoll ist, mit irgendwelchen Andeutungen um sich zu werfen und drittens, ob Philologen einen gehaltvollen von einem völlig sinnlosen Satz unterscheiden können. Wahrscheinlich spielt Dante auf einen Vers von Thomas von Aquin aus der Summa Theologica an: „Die Gerechtigkeit verlangt nach der Barmherzigkeit. Die Gerechtigkeit schaut auf die Sache, die Barmherzigkeit auf die Person. Beide zusammen sehen erst das Ganze. “Das gibt dann wohl das, was man Neudeutsch mildernde Umstände nennt. Das stumpfe Schwert ist aber für diesen Zusammenhang eine ziemlich schlechte Metapher, denn ein stumpfes Schwert würde eher in einen Zusammenhang passen, bei dem ein Instrument zur Durchsetzung eines Zieles nicht geeignet ist. Man könnte sich noch fragen, ob ein Übersetzungsfehler vorliegt, was aber nicht der Fall ist.

e vidi uscir de l'alto e scender giùe
due angeli con due spade affocate,
tronche private de le punte sue.

und ich sah aus der Höhe kommend tiefer steigend
zwei Engel mit dem Schwert in Flammen
doch stumpf, ganz ohne Spitze

Und auch die Italiener interpretieren das so:

“Tronche: spuntate, perché, oltre la giustizia di Dio, ne simboleggiano la misericordia.“
„Stumpf: Ohne Spitze, denn sie sind nicht nur Symbol der Gerechtigkeit Gottes, sondern auch der Barmherzigkeit.“

Dicht über uns sie sanft hernierdergingen,
Auf jedem Rand des Tals blieb einer stehen
Dass sie die Seelen zwischen sich empfangen

Es ist zwar reichlich egal, wo die Engel stehen, aber im Orginal schwebt einer über ihnen, der andere ist auf der anderen Seite des Tales.

L'un poco sovra noi a star si venne,
e l'altro scese in l'opposita sponda,
sì che la gente in mezzo si contenne.

Der eine hielt inne, über uns
der andere stieg hinab zur anderen Seite
so dass die Menschen zwischen ihnen sich befanden

Schlussendlich ist es aber egal, wo die Engel sind, interessanter wäre, wie Dante zu der Schilderung gelangt, dass ihre Flügel grün sind, denn grün spielt auch im Islam eine Rolle.

Die hat der Schoß Mariens hergesendet
Zum Schutz des Tales vor der Schlange Tücken
Die bald, so sprach Sordell, hierher sich wendet

Wir erinnern uns. Sordell ist der etwas phlegmatische Dichter, der aufgrund seiner Trägheit im Vorpurgatorium noch ein paar Runden dreht. Er begleitet Dante und Vergil ins Tal, wo sie die Nacht verbringen wollen. Die Schlange ist die, die die Menschen in Versuchung führt, im Vorpurgatorium allerdings nicht mehr, denn hier sind die Seelen zwar potentiell für Versuchungen aller Art noch anfällig, werden aber von den Engeln davor geschützt, dieser Versuchung auch tatsächlich zu erliegen. Warum man jetzt im Purgatorium auf einmal von den Engeln gehindert wird, der Versuchung zu erliegen und warum Gott überhaupt den Menschen versucht, ist natürlich unklar und gehört zu jenen zahlreichen wirren Gedankengängen, die das Christentum nun mal charakterisieren. Das ist ja schon zu Beginn eigenartig. Die Schlange verspricht Eva, zu erkennen was Gut und Böse ist: Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse (1.Mose 3,5). So mit dem gesunden Menschenverstand würde man das ja andersherum sehen. Wenn jemand NICHT erkennt, was Gut und Böse ist, dann hat wohl das Erziehungssystem versagt. Aber selbst wenn man konzediert, dass es ein Problem ist, wenn jemand Gut und Böse erkennt, fragt man sich, warum er den Apfelbaum dahin gepflanzt hat. Das wiederum, damit dem Menschen die Wahl gelassen wird, frei zu entscheiden. Das Problem dabei ist, dass, wenn jemand sein Eigentum nicht den Umständen gemäß sichert, den Gesetzesverstoß also geradezu provoziert, er sich selber strafbar macht. Im Läuterungsberg auf jeden Fall sorgt Gott dafür, dass seine Kinners der Versuchung nicht unterliegen. Auf diese Idee hätte er aber auch schon früher kommen können.

Wir stiegen kaum drei Schritte abwärts hier
Als ich schon unten stand, da traf ich einen
Der spähte unablässig her zu mir

Es handelt sich um Nino Visconti (gestorben 1296 in Sardinien). Seine Familie gehörte der Partei der Guelfen in Pisa an, was 1273 zur Verbannung führte, welche 1276, nach dem Tod des Vaters und einem Friedensvertrag zwischen den Guelfen Pisas und der Stadtregierung wieder aufgehoben wurde. Wie schon sein Vater übernimmt er das Richteramt für Gallura (eine der vier Provinzen Sardiniens), das damals zu Pisa gehörte. 1288 wird er erneut verbannt und hält sich in Florenz auf, wo er vielleicht den jungen Dante kennenlernte.

Der sah Vergil und Nino einen an
der in der Nähe saß: Auf Konrad, sieh
Rief er, was Gottes Gnade wirken kann


Gemeint ist Currado Malaspina II (gestorben etwa 1294). Die Familie Malaspina war eine reiche, aus Norditialien, Lunigiana (heute la Spezia) stammende, kaisertreue Familie. Dante war während seines Exils eine Zeit lang Gast der Familie.

Und dann zu mir:“Beim Danke, den du nie
Abtragen kannst bei dem, der keine Pfade
Uns lässt erkennen zum Warum und Wie“

Das ist eine etwas verklausulierte Formulierung von „die Wege des Herrn sind unbegreiflich“, allerdings darf man dahinter auch das vermuten, was man wissenschaftlich eine Immunisierungsstrategie nennen würde. Wenn die theologischen Argumentationen etwas verquer sind, dann sind die Wege des Herrn halt unergründlich.

Wohl nicht mehr liebt die Mutter wie ehe
Seitdem sie abgelegt die Witwentracht
Die sie zurückwünscht noch dereinst in Wehe

Das geht jetzt so. Currado Malaspina war mit Beatrice d‘ Este verheiratet und hatte mit dieser eine Tochter, Giovanna. Die oben genannte Mutter ist also auch seine Frau. Die nennt er aber nicht so, weil diese nach seinem Tod Galeazzo Visconti geheiratet hat.

An ihrem Beispiel sieh, wie über Nacht
Oft Liebesglut in Weibesbrust zertaute
Wenn Sehn und Fühlen sie nicht neu entfacht

Ist das die Meinung Dantes? Wir wissen es nicht, vermuten es aber. Warum und wieviele Jahre sie um ihren Mann hätte trauern sollen, wissen wir auch nicht, und wieso das frauenspezifisch sein soll, wird uns leider auch nicht erklärt.

So sprach der Richter, während sein Gesicht
Von jenem echten Eifer war erregt
Der Herzen wärmt, doch nie die Schranken bricht

Damit stimmt Dante dann den Aussagen Currado Malaspina zu, macht sich also die reichlich schwachsinnigen Aussagen des Letzteren zu eigen.

Ich zweifle, ob sie je solch Grabmal schaute
Durch ihre Viper, drunter Mailand ficht
Als ihr der Hahn Galluras eins erbaute!

Die Schlange ist das Wappen der der Visconti, der Hahn das Wappen der Malaspina.

Am Himmel hing mein Blick, sehnsuchtsbewegt
Wo sich die ewigen Lichter träger drehen
Dem Rade gleich, wo sich‘ s um die Achse legt

Das sprach Vergil:“Nun, Sohn, was gibt‘ s zu sehen?“
Und ich:“Nach den drei Flammen muss ich schauen,
Davon der Pol im Blut scheint aufzugehen

Und er:“Das du heute sahst beim Morgengrauen,
Das Viergestirn sank tief schon jenseits fort,
Statt seiner funkeln diese nun im Blauen

Wir haben in den ersten drei Versen wieder eine astronomische Beobachtung, bei der man sich fragen kann, wo Dante sie her hat. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Entweder vermutete er sie aufgrund theoretischer Kenntnisse, oder er hat sie irgendwo gelesen. Wenn er sie aber gelesen hat, stellt sich die Frage, warum er über die südliche Welthalbkugel so irrige Vorstellungen hatte, denn derjenige, der dort war, wusste wohl, wie es dort aussah. Aber abgesehen davon würde der Autor, der zugegebermaßen von Astronomie keine Ahnung hat, sagen, dass es überhaupt keine Änderung gibt. Gemeint sind wohl die unterschiedlichen Sternenhimmel im Verlaufe des Jahres, aber was da schneller oder langsamer dreht, ist vollkommen unklar.

Im Italienischen Orginal heißt es:

Li occhi miei ghiotti andavan pur al cielo,
pur la dove le stelle son più tarde,
sì come rota più presso a lo stelo.

Meine Augen sehnsuchtsvoll erhoben sich zum Himmel
dahin wo die Sterne später kommen
wie ein Rad, das näher an der Achse

Das scheinen italienische Interpreten tatsächlich so zu verstehen: „là dove: verso il polo (antartico) dove le stelle si muovono più lentamente, come la parte della ruota vicina all'asse.“ (da: Beim Südpol / Antarktis, wo sich die Sterne langsamer bewegen, wie der Teil des Rades, der sich in der Nähe der Aches befindet.) Tatsächlich zutreffend ist die Aussage, dass die Teile des Rades, die in der Nähe der Achse liegen, sich aufgrund des geringeren Umfanges, langsamer bewegen als die äußeren.

Das sprach Vergil:“Nun, Sohn, was gibt‘ s zu sehen?“
Und ich:“Nach den drei Flammen muss ich schauen,
Davon der Pol im Blut scheint aufzugehen

Und er:“Das du heute sahst beim Morgengrauen,
Das Viergestirn sank tief schon jenseits fort,
Statt seiner funkeln diese nun im Blauen

Dass Sterne für etwas stehen können, also z.B. für die theologischen Tugenden Liebe, Glaube, Hoffnung (die drei Flammen) und das Viergestirn für die sittlichen Tugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung), versteht sich, aber irgendwie müsste das Sternbild, das diese darstellt, zumindest irgendwo vorhanden sein. Das Viergestirn kann der Stern des Südens sein, beim Dreigestirn ist unklar, was gemeint ist.

Da nahm fortziehend ihn, Sordell das Wort
„Sieh da, der Widersacher kommt gekrochen,“
Rief er, indem sein Finger wies nach dort

Der Widersacher ist die Schlange, also jene, die schon Eva dazu verhalf, zu wissen was Gut und Böse ist. Diese wird von den Engeln zurückgedrängt.

Der auf den Richters Ruf genahet war
Es hing – auch während sich der Kampf erhoben-
Der Geist an mir mit Blicken immerdar

Es ist der bereits oben erwähnte Currado Malaspina, in dessen Familie Dante während seines Exils einige Zeit lebte.