Das Figurenensemble ist in diesem Gesang relativ gering, wir gehen also davon aus, dass Dante Urlaub machte.

Indes ich so vor Seelendurst geschmachtet
Den nur der Brunnen löscht, nach dessen Gnade
Der Wunsch der Samariterin getrachtet

Die Anspielung verstehen Sie nicht? Sind Sie Heide? Oder gehören Sie zu den Christen, die selber nicht wissen, woran Sie glauben. Fragt sich jetzt nur noch, ob der Papst deutscher Nation wüsste, was uns der Dichter mit seinem Werk sagen will. Von welcher Samariterin ist hier also die Rede?

Dante bezieht sich auf das Evangelium des Johannes 4, 14 und diese Rede ist lustig, denn Jesus und die Samariterin, die reden voll aneinander vorbei, das Schicksal des Poeten in der materialistischen Welt ist also vorgezeichnet.

„Da nun der HERR inneward, daß vor die Pharisäer gekommen war, wie Jesus mehr Jünger machte und taufte denn Johannes (wiewohl Jesus selber nicht taufte, sondern seine Jünger), verließ er das Land Judäa und zog wieder nach Galiläa. Er mußte aber durch Samaria reisen. Da kam er in eine Stadt Samarias, die heißt Sichar, nahe bei dem Feld, das Jakob seinem Sohn Joseph gab. Es war aber daselbst Jakobs Brunnen. Da nun Jesus müde war von der Reise, setzte er sich also auf den Brunnen; und es war um die sechste Stunde. Da kommt ein Weib aus Samaria, Wasser zu schöpfen. Jesus spricht zu ihr: Gib mir zu trinken! (Denn seine Jünger waren in die Stadt gegangen, daß sie Speise kauften.) Spricht nun das samaritische Weib zu ihm: Wie bittest du von mir zu trinken, so du ein Jude bist, und ich ein samaritisch Weib? (Denn die Juden haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern.) Jesus antwortete und sprach zu ihr: Wenn du erkenntest die Gabe Gottes und wer der ist, der zu dir sagt: "Gib mir zu trinken!", du bätest ihn, und er gäbe dir lebendiges Wasser. Spricht zu ihm das Weib: HERR, hast du doch nichts, womit du schöpfest, und der Brunnen ist tief; woher hast du denn lebendiges Wasser? Bist du mehr denn unser Vater Jakob, der uns diesen Brunnen gegeben hat? Und er hat daraus getrunken und seine Kinder und sein Vieh. Jesus antwortete und sprach zu ihr: "Wer von diesem Wasser trinkt, den wird wieder dürsten; wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird ewiglich nicht dürsten; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm ein Brunnen des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt." Spricht das Weib zu ihm: "HERR, gib mir dieses Wasser, auf daß mich nicht dürste und ich nicht herkommen müsse, zu schöpfen!" Jesus spricht zu ihr: "Gehe hin, rufe deinen Mann und komm her!"
Das Weib antwortete und sprach zu ihm: "Ich habe keinen Mann." Jesus spricht zu ihr: "Du hast recht gesagt: Ich habe keinen Mann. Fünf Männer hast du gehabt, und den du nun hast, der ist nicht dein Mann; da hast du recht gesagt." Das Weib spricht zu ihm: "HERR, ich sehe, daß du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, zu Jerusalem sei die Stätte, da man anbeten solle.“

Also richtig gut ist die Stelle knapp unterhalb der Mitte. Jesus spricht von einem Wasser, das allen Durst stillt, wie auch immer, wahrscheinlich meint er den wahren Glauben, der alle Sehnsucht stillt oder irgendwas in der Art. Die Poesie des Bildes versteht die hübschen Samariterin natürlich überhaupt nicht, die sieht das ganz praktisch. Wenn es ein Wasser gibt, dass ein für alle mal den Durst stillt, braucht sie nicht jeden Tag dahinzulatschen. Woraus wir dann aber erkennen, dass Dante wohl die Bibel nicht genau gelesen hat, was wir nachvollziehen können, denn das Ensemble an Figuren der Bibel ist ja gewaltig, da geht sogar Dante in die Knie. Die Samariterin auf jeden Fall dürstet überhaupt nicht nach irgendwelcher Gnade, die will ganz konkret und praktisch ein Wasser haben, das den Durst für immer löscht. Stellt sich noch die Frage, ob Zoozmann wieder was gedeutet hat. Schauen wir uns also das italienische Original an und stellen fest, dass tatsächlich Dante hier nicht richtig klar sieht.

La sete natural che mai non sazia
se non con l'acqua onde la femminetta
samaritana domandò la grazia,

Der natürliche Durst, ewig ungestillt
wenn nicht das Wasser mit dem
die Samariterin fragte nach der ewigen Gnade

„La sete naturale“ ist der Wissensdurst, von dem Dante, wie weiter oben geschildert, annimmt, dass er nie gesättigt ist. Die Übersetzung Zoozmann mit Seelendurst ist auch nicht günstig. Zwar dürstet bei manchen Leuten die Seele nach irgendwas, aber bei Dante geht es tatsächlich um Wissen. Die „dürstende Seele“ ist des weiteren überhaupt ein merkwürdiges Konstrukt. Anzunehmen ist, dass die meisten Leute, deren Seele dürstet, gar nicht so genau wissen, was da dürstet.

Schritt ich in Hast die oft gehemmten Pfade
Dem Führer nach und Mitleid fasste mich
Mit der verdienten Qual im Tränenbade

Verstehen Sie irgendwas? Ne? Also weil Sie es sind, geb ich Ihnen eine zweite Chance, eine alternative Übersetzung. Wenn Sie die auch nicht verstehen, dann kommen Sie halt nicht ins Paradies, denn bis zum Paradies sind es noch 13 Gesänge und einfach so drüberhopsen, das geht gar nicht. Sie müssen das jetzt also verstehen, Vers für Vers, hier also Ihre zweite Chance, die zweite Übersetzung, die von Gmelin.

Der Drängte mich und trieb mich an zur Eile
Auf unbequemen Weg, dem Führer folgend
Und schmerzerfüllt ob der gerechten Strafe

Das italienische Orginal sieht dann so aus, das ist dann ein fairer Kompromiss der beiden.

mi travagliava, e pungeami la fretta
Per la ‘mpacciata via dietro al mio duca,
e condoleami a la giusta vendetta.

er trieb mich an, drängte mich zur Eile
durch jenen Weg mit Hindernissen hinter meinem Führer
und es betrübte mich die gerechte Rache

Er stiegt also über die am Boden liegenden Seelen hinweg und war tiefbetrübt, ob ihres Leidens, obwohl dieses eigentlich gerecht war.

Und sieh! Wie Lukas schreibt, dass Christus sich
Den beiden Jüngern zeigte auf der Reise
Als er am dritten Tage dem Grab entwich

Der schlechte Tatbestand ist der, dass ein Geist hinter ihnen auftaucht, den sie erst bemerken, als er sie anspricht. Wundern kann man sich darüber, dass Dante immer wieder betont, dass es für die Seelen deutlich als noch lebend wahrgenommen wird, weil das Boot schwer wird, sein Körper die Sonnenstrahlen nicht durchlässt, er aufgrund seines Gewichts Mühe hat, den Berg hinaufzuklimmen etc. etc. Eigentlich müsste es für Dante ja auch zum Problem werden, dass die Seelen sprechen und hören können, aber das ist irgendwie kein Problem. Das Bild an sich, mit welchem Dante das plötzliche Auftauchen des Geistes beschreibt, ist nicht besonders suggestiv. Suggestiver wäre irgendwie sowas.

Und plötzlich, ganz so wie wenn wir wandern
in dunkler Nacht, ganz versunken in Gedanken
mit Schreck erfüllt, unvermutet auftauchende Gestalten

Also irgendwie so. Auf jeden Fall ist die schlichte Referenzierung von irgendwas poetisch gesehen wirkungslos. Was Dante hier referenziert ist ein Bericht aus dem Lukasevangelium (Lukas 24, 13 ff).

„Und siehe, zwei aus ihnen gingen an demselben Tage in einen Flecken, der war von Jerusalem sechzig Feld Wegs weit; des Name heißt Emmaus. Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. Und es geschah, da sie so redeten und befragten sich miteinander, nahte sich Jesus zu ihnen und wandelte mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, daß sie ihn nicht kannten. Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Reden, die ihr zwischen euch handelt unterwegs, und seid traurig? Da antwortete einer mit Namen Kleophas und sprach zu ihm: Bist du allein unter den Fremdlingen zu Jerusalem, der nicht wisse, was in diesen Tagen darin geschehen ist? Und er sprach zu ihnen: Welches? Sie aber sprachen zu ihm: Das von Jesus von Nazareth, welcher war ein Prophet mächtig von Taten und Worten vor Gott und allem Volk. Das Volk aber sprach: Das ist der Jesus, der Prophet von Nazareth aus Galiläa wie ihn unsre Hohenpriester und Obersten überantwortet haben zur Verdammnis des Todes und gekreuzigt. Wir aber hofften, er sollte Israel erlösen. Und über das alles ist heute der dritte Tag, daß solches geschehen ist.Auch haben uns erschreckt etliche Weiber der Unsern; die sind früh bei dem Grabe gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben ein Gesicht der Engel gesehen, welche sagen, er lebe. Und etliche unter uns gingen hin zum Grabe und fanden's also, wie die Weiber sagten; aber ihn sahen sie nicht. Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren und trägen Herzens, zu glauben alle dem, was die Propheten geredet haben! Mußte nicht Christus solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen? Und fing an von Mose und allen Propheten und legte ihnen alle Schriften aus, die von ihm gesagt waren. Und sie kamen nahe zum Flecken, da sie hineingingen; und er stellte sich, als wollte er weiter gehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. Und es geschah, da er mit ihnen zu Tische saß, nahm er das Brot, dankte, brach's und gab's ihnen.Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege, als er uns die Schrift öffnete? Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten wieder gen Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren, welche sprachen: Der HERR ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen. Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wäre an dem, da er das Brot brach.“

Insbesondere ist der Vergleich mit dem Auftauchen Jesus vor allem deswegen so schwach, weil in der Geschichte das Überraschungsmoment vollkommen fehlt. Jesus wird nicht erkannt, sein Auftauchen als solches ist aber nicht überraschend. Beim Auftauchen des Geistes bei Dante spielt aber das Überraschungsmoment eine zentrale Rolle.

So tauchte hinter uns ein Geist auf, leise
Wir merkten‘ s erst, als er das Schweigen brach
Und prüfend rings die Knieenden im Kreise,

„Gott geb euch Frieden, Brüder“ zu uns sprach

Dieser Geist nähert sich also LEISE, taucht überraschend auf, das tut Jesus im Lukasevangelium überhaupt nicht. Das ist ein allgemeines Problem bei Dante, seine Vergleiche hinken: Sie verfehlen entweder ihre Wirkung, weil sie nicht suggestiv sind, oder sind ungeeignet, den jeweiligen Sachverhalt zu erläutern. Die Divina Commedia ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was man üblicherweise unter Lyrik versteht. Lyrik ist gekennzeichnet durch eine subjektive Verarbeitung der Realität, genauer gesagt sie beschreibt das höchst subjektive Erleben derselben. Die Betonung liegt hierbei auf „erleben“, ein Begriff, der mehr meint, als eine intellektuelle, systematische Beschreibung der Realität. Qualitativ hochwertig ist Lyrik, wenn ein Individuum dem „normalen“ Erleben dieser Realität eine individuelle Wahrnehmung entgegensetzt, den Wörtern also wieder Leben einhaucht, abstrakte, nichtssagende Begriffe, durch individuell erarbeitete ersetzt. Die Divina Commedia hat mit Lyrik nur insofern was zu tun, als ein Versmaß erkennbar ist und sie sich reimt. Ansonsten ist sie die Illustrierung eines Theoriegebildes, bzw. eines Gewusels an Theorien. Wenn Lyrik reinste Innerlichkeit ist, dann ist die Divina Commeda reinste Äußerlichkeit. Wieso Thomas von Aquin in Versform besser ist, als in geraden Sätzen, bleibt das Geheimnis Dantes. Es fällt auf, dass die meisten Leute, die sich zu Dante äußern, immer dieselben Stellen nennen und diese alle aus den ersten drei Gesängen der Hölle entnommen sind. Da hat er noch poetische Kraft. Diese weicht aber zunehmend der Darstellung eines theologischen Theoriegebäudes und wird damit blass und blässer.

Doch weil sie, die zur Tag und Nachtzeit spinnt
ihm jenen Rocken noch nicht leergesponnen
Den Klotho mitgibt jedem Menschenkind

Wär ihm, allein, die Kraft zur Höh zerronnen
Denn seine Seele, Schwester unserer Seelen
Hat unsere Fassungskraft noch nicht gewonnen

Schauen wir uns kurz das italienische Orginal an.

Ma perché lei che dì e notte fila
non li avea tratta ancora la conocchia
che Cloto impone a ciascuno e compila,

l'anima sua, ch'è tua e mia serocchia,
venendo sù, non potea venir sola,
però ch'al nostro modo non adocchia

Da aber sie, die spinnt am Tag wie auch bei Nacht
die Spindel, die Klotho jedem auferlegt und windet
noch nicht vollendet

war seine Seele, die deiner und auch meiner ähnelt,
jedoch noch nicht fasst was unsere Seelen fassen
noch nicht bereit allein herabzukommen

Die, die spinnt ist also Lachesis. Diese bemisst den Lebensfaden, legt also fest, wie lange jemand lebt. Dieser Lebensfaden wird dann von Klotho gesponnen. Es fehlt noch Atropos, die schneidet den Lebensfaden dann am Ende ab. Alle drei zusammen, also Lachesis, Klotho und Atropos sind die Moiren, Töchter von Zeus und Themis (ja, ja, das war wieder eine Titanin, das kennen wir schon, Zeus lässt nichts anbrennen). Wieso man jetzt für den ganzen Vorgang, Länge des Fadens festlegen, den Faden weben und dann durchschneiden drei Leute braucht, weiß Zeus allein. Wir vermuten, dass seine zahlreichen Kinners irgendwie versorgt werden mussten. Das ist also das erste Mal, wo wir das Parkinsonsche Gesetz von der gesetzmäßigen Ausdehnung der Bürokratie beobachten können. Ist ein Beamter mal da, dann findet man irgendwo auch einen Job für ihn. Die zweite Terzine ist dann völlig unklar. Man könnte sie so interpretieren, dass Dante „den Pfad verlor des rechtens Streben“ wie es am Anfang heißt und deswegen das System noch nicht durchschaute. Hätte er aber gewußt, wie genau alles geregelt ist, wenn man sich mal die Radieschen von unten anschaut, dann hätte er ja den Tripp gar nicht unternehmen müssen.

Wer der Geist ist, erfahren wir zwar immer noch nicht, dafür aber, warum vorhin der Berg so gebebt hat.

Doch sprich: Warum vorhin die ganze Masse
Des Bergs gebebt, dass laute Stimmen klangen
Bis unten, wo den Berg umspült das Nasse?

Sie erfahren dann, dass es den Läuterungsberg erstmal nichts erschüttert, was von unten kommt, genau genommen, herrscht ewige Ruhe nach der Pforte, durch die man den eigentlichen Läuterungsberg betritt.

Auch wirbelt trockner Dunst nur bis zur Stelle
Wo ihr zum Ruhesitz sich saht erheben
Für Petri Schlüsselwart die Demantenschwelle

Der Berg bebt nur, wenn eine Seele empor schwebt.

Hier bebt‘ s wenn eine Seele frei sich fühlt
Emporzuschweben und die Stimmen loben
Den Herrn, wenn sie in Himmelsluft sich kühlt

Der bloße Wille gilt statt aller Proben
Als Reinigungsbeweis, wenn froh und frei
In sich die Seele fühlt den Trieb nach oben

Der, wenn er auch zuerst erbötig sei
Gedämpft wird vom Gerechtigkeitsgefühle
Dass Sehnsucht nach der Strafe nötig sei

Wenn also die Seele fühlt einen Trieb nach oben, also ins Paradies, dann gilt das schon als Beweis dafür, dass sie gereinigt ist. Die Seele hat dann aber erkannt, dass es ungerecht wäre, wenn sie gleich ins Paradies entschwindet, sie sehnt dich danach, vorher noch zu büßen. Die Sünden werden im Läuterungsberg also nicht etwa nur abgesessen, sondern man muss sich danach sehnen, büßen zu dürfen, was ja eine wahrhaft geläuterte Seele auch einsieht. Da das Christentum aber eigentlich gar keine konkreten Vorstellungen vom Paradies kennt, von der Hölle und vom Läuterungsberg übrigens auch nicht, kann man sich natürlich fragen, auf welchen Grundlagen die Vorstellungen Dantes fußen. Wie dem auch immer sei, die Seelen im Läuterungsberg sehnen sich nach dem Paradies, obwohl sie wohl keine konkrete Vorstellung davon haben, was sie dort erwartet, denn um eine konkrete Vorstellungen davon zu haben, hätten sie ja die Divina Commedia lesen müssen, die lag aber zum damaligen Zeitpunkt nicht vor, wir sind also, ausnahmsweise, klar im Vorteil.

Wir wissen zwar nicht, was Dante an den Ausführungen des uns weiterhin unbekannten Geistes entzückte, wir nehmen aber zur Kenntnis, dass Dante davon entzückt ist.

So sprach er. Und je satter nach der Länge
Des Dürstens labt der Trank, fand ich Entzücken
Wie es beschrieben kann kein Wortgepränge

Zu guter Letzt erfahren wir aber noch das, was uns schon die ganze Zeit interessiert, nämlich wer der entzückende Geist eigentlich ist.

Doch sag mir, wer du warst, als du gelebt
Bat ihn der Weise, und aus welchem Grunde
Fünfhundert Jahr lang du am Staub geklebt

Doch die Frage wird nicht direkt beantwortet, das wäre nicht dantaesk, irgendwie. Wir erfahren jetzt alle möglichen Details, dass er zur Zeit des Titus gelebt hat, dass er wundervoll von Theben gesungen hat und bei Achilleus dahingesunken ist. Ganz raffiniert ist dann noch, dass Dante noch ein paar Fehler und Skurrilitäten eingebaut hat. Das finden wir auch ok, denn der Leser der Divina Commedia will ja nicht nur gefördert, sondern auch gefordert werden. Es handelt sich also um Papinius Statius. Was? Sie wissen nicht wer Papinius Statius war? Sie gehören wohl auch zu den Leuten, die ohne Wikipedia ganz alt aussehen würden, was? (http://de.wikipedia.org/wiki/Publius_Papinius_Statius). Bei Wikipedia lesen wir dann, dass er um 40 nach Christus in Neapel geboren wurde und dort auch 96 nach Christus starb. Fällt ihnen was auf ? Schauen Sie mal in der letzten Terzine die letzte Zeile an, da steht 500 Jahr liegt er dort im Staube. Das kann dann nicht ganz hinhauen, denn die Divina Commedia wurde zwischen 1307 und 1320 geschrieben. Das macht also so knapp 1200 Jahre. Also fehlen etwa 700 Jahre wo er entweder sonstwo war, Dante sich verrechnet hat oder Zoozmann. Ein Blick in das Original zeigt, dass Zoozmann der Schuldige ist.

Ora chi fosti, piacciati ch'io sappia,
e perché tanti secoli giaciuto
qui se', ne le parole tue mi cappia

Es möge dir gefallen, dass ich wisse, wer du gewesen
und warum du soviele Jahrhunderte hier gelegen
aus deinen Worten mir sich offenbare

Also bei Dante sind es halt ein paar Jahrhundert, das ist dann unbestimmter, kommt also eher hin. Mit der kritischen Würdigung der historischen Umstände sollten wir es nicht so genau nehmen, die geschichtlichen Fakten sind für Dante nicht wirklich relevant, eine kritische Würdigung derselben scheint mit seinen Prinzipien nicht in Einklang gebracht werden zu können. Nehmen wir mal diesen Vers.

Zur Zeit des guten Titus, der die Würde
Mit Gottes Hilfe rächte, draus das Blut
Das Judas feilbot, floss zur Todesstunde

Gemeint ist Titus Flavius Vespasianus (geb. 9 nach Christus, gest. 79 nach Christus), römischer Kaiser von 69 nach Christus bis 79 nach Christus. Angespielt wird auf die Niederschlagung eines Aufstandes in der Provinz Judäa durch das römische Heer unter Führung von Titus, die schließlich 70 nach Christus mit der Zerstörung des Tempels von Jerusalem endete. Dante interpretiert diese Niederschlagung als Rache für die Ermordung Jesu, für die er die jüdischen Priester verantwortlich macht.

Ein eindeutiger Fehler ist auch in diesen Versen.

So wohllautvoll floss meines Sanges Weise
Dass Rom mich rief: Rom! Mich ! Den Tolosanen
Mich krönend mit verdientem Myrtenreife

Da Papinius Statius in Neapel geboren ist, kann man ihn kaum einen Tolosanen nennen. In Tolosa, Toulose, wurde Lucio Stazio Ursolo geboren, mit diesem hat Dante ihn verwechselt.

Dass heut die Welt noch ehrt des Statius Mannen!
Von Theben sang ich – doch vom Tod bezwungen
Sank ich dahin auf des Achilleus Bahnen

Das wichtigste Verk des Statius ist eine Dichtung über die Sage „Sieben gegen Theben“ (die wir bereits kennen) und ein Epos über Achill, das unvollendet blieb, das raffte ihn über seiner Schöpfung brütend der Tod hinweg.

Wie dieser Statius überhaupt in den Läuterungsberg kommt ist das nächste Geheimnis. Karriere machte er unter Domitian, der seinem Vater Titus auf den Thron folgte (nachdem sein Bruder verstarb). Als Hofpoet feierte er vor allem seinen Kaiser, jenen Kaiser, der in der Geschichtsschreibung überwiegend negativ beschrieben wird. Warum er aber im Läuterungsberg landet, ist vor allem deswegen so erstaunlich, weil er ohne „rechten Glauben“ lebte.

Schmückte der Name mich, drin Ehre ruht
Für mich und Nachruhm, doch zum höchsten Preise
Sprach jener, fehlte mir der Glaube

Insofern ähnelt er Vergil, der einzige Unterschied besteht darin, dass Vergil vor Christi Geburt, er aber nach Christi Geburt geboren wurde. Da das Weltbildes Dantes ja äußerst schematisch ist, könnten wir zur Not noch nachvollziehen, dass der Eine in einem Luxusquartier im ersten Kreis der Hölle haust, der Andere es in den Läuterungsberg geschafft hat. Vollends wirr, wird es aber bei diesen Versen.

O hätt ich mit Vergil gelebt! – beglückt
Gäb ich mich drein, wär die Erlösungsstunde
Mir um ein volles Jahr hinausgerückt

Da er also seinen Vergil vergöttert, hätte er gerne so ein gutes Jahrhundert früher gelebt, dann wäre er ein Zeitgenosse Vergils gewesen, so weit, so gut. Aber er behauptet, das hätte sein Verweilen im Läuterungsberg nur um ein paar Jahre verlängert. Da kennt er aber Dante schlecht. Hätte er ein Jarhundert früher gelebt, dann hätte er auf ewig in der Hölle geschmort. Blickt Statius nicht durch, hatte Dante vergessen, was er früher lehrte oder haben wir einen Übersetzungsfehler? Schauen wir uns das italienische Original an. Verblüfft stellen wir fest, dass kein Übersetzungsfehler vorliegt.

E per esser vivuto di là quando
visse Virgilio, assentirei un sole
più che non deggio al mio uscir di bando

Um dort zu leben als
Vergil dort lebte, würde ich geben
ein Jahr mehr als nötig bevor ich verlasse diese Fesseln

Natürlich unterlässt es Dante, ihn über seinen Irrtum aufzuklären. Hätte er ein Jahrhundert früher gelebt, wäre Schicht im Schacht, er hätte auf ewig in der Hölle gebrutzelt. Unabhängig aber von der Frage, wie man die klare Unterscheidung Dantes zwischen vor Christi Geburt und nach Christi Geburt bewertet, hat Dante auch noch eine merkwürdige Einstellung zu den christlichen Sakramenten. Ein Kind Gottes ist ja nur der, der getauft ist. Auf solche Kleinigkeiten kommt es aber schon gar nicht mehr an. Dante presst und sieht die ganze Welt aus der Sicht seines Systems. Nicht das einzelne Individuum interessiert ihn, das einzelne Phänomen, ihn interessiert allein sein System. Er reiht sich damit ein in die zahlreichen anderen Begründer totalitärer Herrschaft. Auch für ihn gilt, was Francisco Goya 400 Jahre später sagen wird.

El sueño de la razón
Produce monstruos

Der Traum der Vernunft
Gebiert Monster

Die restlichen Verse verbuchen wir dann unter sentimentalem Edelkitsch. Statius gibt seiner Verehrung für Vergil Ausdruck, ohne zu wissen, dass er genau mit diesem spricht. Vergil wiederum, ganz bescheiden, gibt sich natürlich nicht zu erkennen und Dante, der ja zu gerne die Verhältnisse klären würde, wagt dies natürlich nicht ohne die Erlaubnis seines verehrten Meisters. So geht das dann eine Weile hin- und her, bis Vergil Dante die Erlaubnis gibt, zu sprechen. Wir lassen das jetzt also auf sich beruhen und begleiten unsere Edelmütigen auf ihrem Weg zur nächsten Terrasse.