Andere Seelen bestürmen Dante, für sie zu beten, ähnlich aufdringlich, wie nach einem Würfelspiel der Gewinner von den anderen Mitspielern bedrängt wird, einen Teil des gewonnenen Geldes wieder zurückzugeben. Die Anzahl an auftretenden Personen ist nun erstmal üppig. Inwieweit die Zeitgenossen Dantes mit diesen Andeutungen etwas anfangen konnten, hat noch niemand versucht zu ermitteln. Anzunehmen ist aber, dass ohne Yellow Press, Buchdruck und ohne den ganzen logistischen Apparat des modernen Zeitalters die Informationen nur spärlich flossen. Unklar ist auch, aus welchen Quellen Dante selbst schöpfte. Welchen Sinn dieses punktuelle Auftauchen dieser Personen haben soll, ist unklar. Wir verlangen nicht unbedingt ein differenziertes psychologisches Porträt, fragen uns aber dennoch, ob diese lose Aneinanderreihung irgendeinem ästhetischen Prinzip folgt. Man kann befürchten, dass dieses wilde Auf – und Abtauchen teilweise lediglich durch die dem Werk innewohnenden Zahlenspiele bedingt ist, welche manche Interpreten tiefsinnig finden. (Summe der Lieder = 100 (34,33,33), alle Lieder sind in etwa gleich lang etc.). Um es dann passend zu machen, braucht man beliebig Füllmaterial, soll heißen, fehlen noch zwei, drei Verse, holt man ein anderes Gespenst aus der Versenkung.

Hier war der Aretiner, den erschlagen
Des Ghin di Tacco grimme Rächerhand
Dort jener, der ertrank im raschen Jagen


Der Aretiner ist Benincasa da Laterina, ein Rechtsgelehrter. Dieser hatte zwei Verwandte des Ghino di Tacco hinrichten lassen, was letzterer rächte, indem er ersteren umbrachte. Was an dieser Geschichte wahr ist, bzw. ob sich Ghino di Tacco auf ein so simples Schema reduzieren lässt, ist unklar. Ein völlig anderes Bild dieser Figur entwirft Boccaccio fünfzig Jahre später in seinem Decamerone (zehnter Tag, zweite Novelle). Hier wird Ghino di Tacco als pfiffiger, durchaus auch mal gutmütiger Straßenräuber geschildert, eher so, wie sie zweihundert Jahre später in pikaresken Romanen auftreten. Ghino muss in der zweiten Hälfte des 1300 Jahrhunderts gelebt haben; er war also ein Zeitgenosse Dantes. Sein Vater war Tacco di Ugolino, der zusammen mit seinem Onkel und seinem Bruder die "Viererbande" bildete, die von ihrer Burg La Fratta (heute Provinz Siena) aus Raubzüge organisierten. Der Grund für diese Raubzüge waren wohl die Abgaben, die die Kirche Sienas für den Heiligen Stuhl auf das Land erhob und die von den Landbesitzern als übertrieben empfunden wurde. Da Siena überwiegend in der Hand der Ghibellinen war, die auf der Seite des Kaisers standen und somit gegen das Papstum waren, wurden sie für diese Raubzüge nicht verfolgt. Das änderte sich, als sie 1279 das Schloss Torrita di Siena in Schutt und Asche legten, welches einer ghibellinischen Familie gehörte und Jacopino da Guardavalle töteten. Die Stadt Siena jagte sie daraufhin und nahm sie 1285 gefangen. Im Jahre 1286 wurden sie hingerichtet. Das Urteil fällte eben Benincasa da Laterina. Ghino und sein Bruder waren zu diesem Zeitpunkt minderjährig und entgingen der Strafe. Wir sehen aber aus dieser Skizze, dass a) Ghino Stoff für eine reichhaltigere Geschichte gegeben hätte ( Boccaccio liefert eine solche) und b) Dante, wie sehr oft, der Komplexität der Verhältnisse nicht gerecht wird. Verhaftet in seinen christlichen Vorstellungen hat er eine äußerst schematische Sichtweise der Welt. Bedenkt man, dass nur 50 Jahre später schon Boccaccio ein Werk schrieb, das sehr viel ausgewogener, aufgeklärter und differenzierter ist, dann erkennen wir doch deutlich die Mängel der Divina Commedia. Die Welt wird betrachtet aus dem engen Winkel einer bestimmten Weltsicht, die Figuren sind nur Objekte zur Illustrierung dieser Weltsicht. Dante ist ein Vertreter des Mittelalters, und die Geschichte, die Philosophie musste über diese Zeit und die Gedankenwelt dieser Zeit hinwegrollen, weil sie keine Antworten bot.

Auch der Pisaner kam, an dessen Leiche
Man den Marzucco seelengroß erfand


Interessant ist hier, wie ein Kommentator vom anderen abschreibt, in diesem Falle wörtlich.

Bei Karl Streckfuß (1884) lesen wir: „Der von Pisa, Guido, Sohn des Marzucco degli Storingiani, wurde von seinen Feinden ermordet. Der Vater, welcher sich als Mönch in ein Kloster hatte aufnehmen lassen, trug mit großer Geistesstärke den Tod seines Sohnes und küßte, sich vom Gebote der italienischen Sittenlehre lossagend, dem Mörder die Hand.“

Bei Karl Zoozmann: Der Pisaner, Guido, Sohn des Marzucco degli Storingiani, wurde von seinen Feinden ermordet. Der Vater, der sich als Mönch in ein Kloster hatte aufnehmen lassen, trug mit großer Geistesstärke den Tod seines Sohnes und küsste, sich vom Gebote der italienischen Sittenlehre lossagend, dem Mörder die Hand.

Ein anderer Erklärer nennt Ugolino als Mörder, der den Sohn nicht begraben lassen wollte, und nach dem Handkuss zum Vater bewundernd sagte: „Gehe hin, deine Geduld und Standhaftigkeit hat meine Härte besiegt.“

Nicht das im Wesentlichen rein akademische Problem, dass der Eine vom Anderen abschreibt, ist hier interessant. Deutlich wird jedoch, dass die Quellenlage teilweise äußerst dünn ist und sich noch niemand darüber Gedanken gemacht hat, ob die das Verfahren Dantes, die punktuelle Beschreibung einer Figur zur Illustrierung des christlichen Weltbildes, tatsächlich den historischen Zusammenhängen gerecht wird, oder schärfer, inwieweit die punktuell beleuchtenden Personen überhaupt geeignete Objekte zur Illustrierung bestimmter Zusammenhänge waren. Wenn also im Einzelnen der Versuch gemacht wird, die unterschiedliche Behandlung des gleichen Verbrechens zu erklären, so ist das überflüssig, denn es ist ein Systemfehler der gesamten Divina Commedia.

Graf Orso, und die Seele, die vom Streiche
Missgünstigen Grolls – wie sie‘ s benannt – geschieden
Nicht dass Verbrechen ihr zur Schuld gereiche


Entweder handelt es sich um einen Angehörigen der Familie Alberti aus Florenz, der von einem Bekannten getöt wurde, oder um den Sohn des Grafen Napoleon von Cerbaja, der von seinem Onkel umgebracht wurde.

Pier della Broccia ist‘ s, mag drum hienieden
Sich zeitig vorsehen die Brabanterin
Dass einst nicht schlimmre Brut ihr stört den Frieden


Pierre della Broccia war Chirurg und Kammerherr am Hofe von Philipp dem Kühnen (geb. 1245, gest.1285, ein Neffe von Karl von Anjous), der, wie wir schon öfter gesehen, sich mit den Habsburgern in Italien rumschlug und Sizilien beanspruchte, welches wiederum auch von Aragonien und Kastilien beansprucht wurde. La Brosse wurde für den Tod des jungen Thronfolgers Ludwig, dem Sohn aus erster Ehe Philipps verantwortlich gemacht, eingekerkert und 1278 gehängt. La Brosse wiederum hatte aber die zweite Ehefrau Phillips, Maria, für den Tod ihres Stiefsohnes verantwortlich gemacht. Wer den Thronfolger umgebracht hat, ist ungeklärt. Für Dante ist es klar, es war die Brabanterin (Maria stammt aus Brabant), die ihren Stiefsohn ermorden ließ und dann Pierre della Broccia des Mordes bezichtigte und seine Hinrichtung betrieb. Tatsächlich ist dies jedoch nicht klar. Sie starb 1321, war also zur Zeit der Abfassung des Werkes noch am Leben, und Dante empfiehlt ihr, sich vorzusehen, damit sie nicht als Mörderin noch in der Hölle landet (Dass einst nicht schlimmre Brut stört den Frieden).

Die Frage, die sich Dante nun stellt, da alle ihn bitten für sie zu beten, ist, ob dies überhaupt einen Sinn mache. Worauf ihm Vergil antwortet, dass Beatrice ihm diese Frage beantworten werde.

Doch schau die Seele dort, die wie gebannt
Hierher blickt – einsam steht sie, auf uns achtend
Der nächste Weg ist ihr gewiss bekannt


Gemeint ist Sordello da Goito. Wir haben wieder eine Figur, bei der sich die Darstellung Dantes nicht unbedingt mit der Wirklichkeit deckt. Sordello war ein Troubadour aus der Lombardei, was bekannt ist, lässt aber auf mehr Temperament schließen. 1220 war er in Florenz in eine Wirtshausschlägerei verwickelt, 1226 entführte er die Frau seines Brötchengebers, Riccardo di San Bonifacio, Cunizza, die in jungen Jahren verheiratet worden war, ihren Gatten aber offensichtlich langweilig fand. Ihre letzten Jahre verbrachte sie in Florenz, wo sie die Bekanntschaft Dantes machte (Aus irgendwelchen Gründen schafft sie es in Paradies, denn dort taucht sie wieder auf, im neunten Gesang, 32, während Francesca da Rimini in der Hölle gelandet ist; eines lernen wir also bei Dante gründlich: Die Wege des Herrn sind unergründlich). Ab 1265 ist er in Diensten von Karl von Anjou. Er stirbt 1265.

quelle
http://it.wikipedia.org/wiki/Sordello_da_Goito

Weil Sordello aus Mantua kommt, fühlt sich der Busen Vergils jugendlich erschüttert.

Der still erst tiefem Sinnen nachgehangen
Er rief: „Sohn Mantuas, ich bin Sorell,
Dein Landsmann!“ – worauf beide sich umschlangen


Dann kommt eine Beschreibung Italiens aus damaliger Zeit, die aber im Grunde wohl für alle Staaten galt. Aus theoretischer Sicht gibt das wenig her, und bevor sich grundlegende Ideen wie Gewaltenteilung, die Idee der Demokratie als Herrschaft auf Zeit, der wissenschaftliche Apparat, der der staatlichen Haushaltspolitik zugrunde liegt (oder auch liegen sollte), etc. etc. etc. durchsetzen werden, werden noch weitere 600 Jahre vergehen. Man kann sich mit Dante beschäftigen, als Repräsentant des Mittelalters, aber manche Leute scheinen dem Glauben aufzusitzen, dass Dante als Theoretiker auch heute noch eine Wirkung erzielen könne, obwohl dem nicht so ist. Dante fasst nun seine Ansicht, dass der Kaiser das weltliche, die Kirche das geistige Reich regieren solle, zusammen.

Was hilfts dir‘ s – da dein Sattel reiterlos –
Dass Justinian dir ausgeflickt die Zügel?
Wär‘ s nie geschehen, die Schmach wär minder groß!

Angespielt wird auf den römischen Kaiser Justinian (482-565 nach Christus), der die Gesetze Roms im Codex Justiniani zusammenfassen ließ. Dieser war auch noch im Mittelalter die maßgebliche Rechtsquelle. Allerdings nützt eine Verfassung natürlich wenig, wenn niemand da ist, der sie durchsetzen kann. An dieser Stelle baut Dante jetzt nicht mehr auf einen Staufer, denn Manfred von Sizilien war ja am 26. Februar 1266 bei Benevent vernichtend geschlagen worden und auch der Sohn seines Halbbruders, Konradin, konnte sich gegen Karl von Anjou nicht durchsetzen, wurde 1268 gefangenommen und im selben Jahr in Neapel enthauptet, und damit endete die Stauferherrschaft in Italien, und er baut auch nicht mehr auf Heinrich VII aus dem Hause Luxemburg, der im Jahre 1313 in der Nähe von Siena an Malaria erkrankte und starb.

O deutscher Albert, hast du es vergessen
Dem Gaul, der täglich tobt in wildrer Wut
Den Schenkel kräftig um den Bug zu pressen?


Dieser Albert, ein Sohn Rudolfs I von Österreicht, hatte aber gar keine dynastischen Ansprüche in Italien, und weiter ist es auch genau der Albert, der über seinen Statthalter Gessler die Schweiz tyrannisierte, bis Wilhelm Tell (…durch diese hohle Gasse muss er kommen) letzteren erschoss. Wieso dieser Albert also geeignet gewesen sein soll, Italien zu einigen, kann nur der verstehen, der davon ausgeht, dass ein Tyrann besser ist als unendlich viele, eine These, die man ja bestreiten kann. Unter Umständen ist aber genau das die These Dantes, besser ein tyrannischer Kaiser, der die anderen Minityrannen in Schach hält, als unendlich viele Minityrannen. Heutzutage würde man das komplexer organisieren, also weder einen großen Tyrannen noch lauter kleine, aber wenn man nur die Auswahl hat, die Dante zu haben glaubte, sind lauter kleine Minityrannen wahrscheinlich besser.

Was dann folgt ist eine Standpauke an die Kaiser, an welche auch immer. In dieser Standpauke bringt er dann nochmal zum Ausdruck, dass ein großer Tyrann besser ist, als lauter Minityrannen.

Von Zwingherrn wimmelt Welschland – ja von vielen!
Wo jeder Bauer zur Partei zu schwören
Sich drängt, um als Marcell sich aufzuspielen


Mit Marcell ist wahrscheinlich Gajus Claudius Marcellus gemeint, ein Parteigänger des Pompeius und Feind Cäsars, also des Kaisertums. Wir haben also wieder die eigenwillige Interpretation der Geschichte, die auch schon Brutus und Cassius haben in der Hölle landen lassen. Für Dante sind die Leute, die die Republik verteidigten, Verrräter, derjenige, der sie aushebelte, die Hoffnung. Bis der Irrsinn einer solchen Ansicht klar wird, werden noch 600 Jahre geschichtlicher Umwälzungen vergehen und eine Menge Bücher geschrieben werden, die schließlich das theoretische Fundament für ein funktionierendes Staatwesen legen werden. Inwiefern ein Mensch des Mittelalters hier nicht zu differenzierenteren Einsichten hätte kommen können, alternative Staatsmodelle gab es ja bereits und auch alternative Theorien, wollen wir jetzt nicht beurteilen.

Athen und Sparta, ehrenvoll genannt
Als der Gesetze helle Ruhmessonnen
Darf eine lösen dir der Schuhe Band

Hier zeigt sich, dass auch Dante ab und an mal daran dachte, dass auch eine Demokratie, als Herrschaft auf Zeit, ein Modell sein könnte, denn Athen und Sparta waren Demokratien. Allerdings ist hier die Übersetzung etwas daneben, so dass der Sinn der Verse verdunkelt wird. Im Orginal heißt es:

Atene e Lacedemona, che fenno
l'antiche leggi e furon sì civili,
fecero al viver bene un picciol cenno


Lacedemona ist ein anderes Wort für Sparta, wir erhalten also.

Athen und Sparta, die die Gesetze der Antike
schrieben und so bürgerlich zu Lebzeiten
gaben sie nur ein schwaches Zeichen

Allerdings fehlt uns auch hier wieder die umfassende historische Würdigung. Er sieht Athen und Sparta in einer Linie mit Florenz, welches ja ebenfalls demokratische Momente hatte.  

verso di te, che fai tanto sottili
provedimenti, ch'a mezzo novembre
non giugne quel che tu d'ottobre fili.  


Im Vergleich mit dir, die du soviele subtile Vorkehrungen triffst,
dass schon Mitte November nicht mehr gilt,
was im Oktober du beschlossen

Mit …im Vergleich zu dir… ist Florenz gemeint. Das Problem Dantes ist, man kann ihm das nicht vorwerfen, dass er demokratische Prozesse nicht versteht. Wird um die Lösung gesellschaftlicher Probleme gerungen, so werden eben auch unsinnige Gesetze beschlossen, die aber in einer Demokratie spätestens bei der nächsten Wahl korrigiert werden können. Das mag nicht praktisch sein, aber immer noch besser, wie kaiserliche Erlasse, die falsch sind, aber nie korrigiert werden, weil sie sich dem Votum des Wählers nie stellen. Die Lobhudelei der Philologenzunft bis in unsere Zeit lässt aber darauf schließen, dass auch diesen die Funktionsweise der Demokratie und deren theoretisches Fundament nicht bekannt ist. Vielleicht sollten sie mal ein geeignetes Buch in die Hand nehmen, zum Beispiel Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Dante kann man keinen Vorwurf machen, er war ein Kind seiner Zeit. Von beamteten Professoren aber, die ihr Geld vom Staat beziehen, darf man verlangen, dass sie die Fundamente unserer Gesellschaftsordnung verstehen und geschichtliche Prozesse korrekt einordnen.