Dante und Vergil sind immer noch im achten Tal des achten Kreises der Hölle. Die Bezüge die hier hergestellt werden, beziehen sich fast ausschließlich auf geschichtliche Ereignisse die sich zu Lebzeiten Dantes oder unmittelbar zuvor zugetragen haben und da die politische Situation Italiens zu diesem Zeitpunkt ausgesprochen wirr war, kann der 27. Gesang wohl auch als der sperrigste der gesamten Hölle gelten.

Zu Beginn entschwindet die Doppelflamme, die Odysseus und Diomedes einschloss.

Schon stand die Flamme aufrecht, regte länger
Das Haupt nicht und ging hin in tiefem Schweigen
Als sie entlassen der verehrte Sänger.

Der verehrte Sänger ist natürlich Vergil. Es nähert sich eine andere Flamme, die erstmal aus einer wirren Geraune nichts hervorbringt. Diese Geraune wird verglichen mit dem den Lauten, die der Stier des Perillus hervorbrachte, wenn er seiner, perversen, Bestimmung gemäß benutzt wurde. Perillies erschuf einen bronzenen Stier, den er dem Tyrann Phalaris, T von Akragas, (Herrschaft von 570–555 v. Chr. in Akragas (Agrigent) im heutigen Sizilien schenkte. Im Inneren dieses Stieres wurde zum Tode Verurteilte durch ein unter dem Stier angebrachtes Feuer verbrannt. Ihre Schmerzensschreie ließen den Stier brüllen. Den ersten allerdings, den Phalaris auf diese Weise umbringen ließ, war der Erschaffer dieses monströsen Gebildes selbst, als Perillies. Dante findet es gerecht, dass er der erste war, der so umgebracht wurde.

Wie des sizilschen Stieres erst Gebrülle
Vom Bildner herkam – Recht, dass man‘ s befahl
Der eingesperrt war in der erznen Hülle

Diese neue Flamme nennt ihren Namen bis zum Schluss nicht, beschreibt aber ihr Leben, woraus dann den Zeitgenossen klar war, dass es sich um Graf Guido von Montefeltro handelt. Bei Guido de Montefeltro handelt es sich um ein Mitglied der Adelsfamilie Montefeltro, mit Stammsitz in der Romagna, also in Norditalien. Er errang eine Bedeutung als Feldherr, als sich ein Zwist zwischen zwei Familien, den Lambertazzi und Geremei, sich zu einem die ganze Romagna erfassenden Krieg ausweitete. Auch hier haben wir wieder das bekannte Schema, die Ghibellinen, die Kaisertreuen auf der einen und die Guelfen, die Papstreuen, auf der anderen Seite. Für die ersteren errang Guido de Montefeltro in den Jahren 1275 - 1282 Sieg auf Sieg. Als Dante dann in die Hölle hinabsteigt, also nach 1300, ist die Romagna aber wieder friedlich, davon berichtet er. Im Zusammenhang mit diesen kriegerischen Ereignissen, sind auch diese Verse zu verstehen.

Die Stadt, die kühn und lange standhaft war
Das Feld mit Gallierleichen zu bestreuen
Schützt jetzt des Löwen grünes Klauenpaar

Angespielt wird also auf zwei Zusammenhänge, einmal auf eine kriegerische Auseinandersetzung und zum anderen wird erwähnt, wer jetzt in dieser Stadt regiert. Die Anpielung auf die „Gallierleichen“, davon gleich, lässt uns wissen, um welche Stadt es sich handelte und das grüne Klauenpaar lässt einen Rückschluss darüber zu, wer nach diesen kriegerischen Auseinandersetzungen, also zu dem Zeitpunkt, also Dante mit Guido de Montefeltro spricht, dort regiert. Die grünen Tatzen sind das Wappen der Ordelaffi, Scarpetta de Ordelaffi war, mit Unterbrechungen, Stadtoberhaupt von Forli seit 1296. Er setzte sich, erfolglos, für die Rückkehr der weißen Guelfen, zu denen auch Dante gehörte, nach Florenz ein. Dante war im Jahre 1303 sein Gast und arbeitete für ihn als Sekretär. Doch zurück zu der kriegerischen Auseinandersetzung. Papst Martin IV hatte aber zum Jean de Pas zum Grafen der Romagna gewählt. Dieser versuchte nun 1282, mit Hilfe französischer Soldaten, Frankreich hatte naheliegenderweise ein Interesse an der Schwächung des staufischen Kaisserreichs, Forli zu erobern, Guido de Montefeltro
verteidigt das ghibellinische Forli. Für eine direkte Verteidigung der Stadt befand er sich zu schwach, verließ also Forli mit seinen Soldaten und einem Großteil der Einwohner und ließ die Franzosen eindringen. Die vor der Stadt verbleibende Nachhut wurde niedergemacht. Die Franzosen in der Stadt bemerkten nicht, dass die Nachhut niedergemacht worden war und wurden in einem Überraschungsangriff niedergemetzelt. Er war also militärisch ziemlich listig, darauf zielen diese Verse

In listgen Ränken, hinterhältigen Schlichen
War ich vom schlausten Fuchs nicht zu erreichen
Das war mein Ruhm in allen Himmelsstrichen


Dieser Sieg über die Guelfen nützte aber erstmal nichts, da er Papst und der König von Neapel ein neues Heer aufstellen konnte, dass aus allen Städten Italiens gebildet wurde, die der Partei der Guelfen, also der Kaisertreuen angehörten. Forli unterwarf sich und Guido de Montelfetro wird mit Kirchenbann belegt und nach Piemont verbannt, wo er von 1283 bis 1290 blieb. Durch das Übergewicht der Guelfen fühlt sich nun das ghibellinische Pisa von dem guelfisch dominierten Florenz, Lucca und Genua bedroht. Pisa setzt Guido als Heerführer ein, der auch tatsächlich die Übermacht des Gegners brechen und damit einen für Pisa ehrenvollen Frieden ermöglicht. Damit es aber nicht zu einfach wird, haben wir noch diese Verse.

Da er so triftige Gründe brachte bei
Und mir‘ s der schlimmste Rat schien, wenn ich schwiege
So riet ich: „Vater, sprichst du mich den frei.

Von dieser Schuld, ich ich unterliege
So höre: Viel versprechen, wenig halten!
Dies Wort verhilft dem Heiligen Stuhl zum Siege


Also, fangen wir nochmal von vorne an. Guido de Montelfetro ist ein Ghibelline, diesen Ghibellinen belegt der Papst mit Kirchenbann, nachdem dieser sich in Forli ergeben und in die Wüste geschickt worden war. 1296 kommt es aber zu einer Aussöhnung zwischen ihm und dem damaligen Papst, Bonifaz VIII und er wird Mönch um so für sein sündiges Leben zu büßen. Versöhnlich stimmte Bonifaz VIII wohl die militärischen Fähigkeiten von Guido de Montelfetro. Diese nämlich braucht er, um die Familie Colonna zu bekriegen. Diese Familie zweifelte an der Legitimität der Wahl Bonifaz VIII zum Papst, worauf, selbiger, mithilfe der in den Versen oben angedeuteten deren Festung, Palestrina (ein Ort östlich von Rom, heute 19 000 Einwohner) im Jahre 1298 schleifen ließ und die Familie ins Exil zwang. Dort organisierten sie dann mit Phillip dem Schönen von Frankreich den Widerstand gegen das Papstum. Als der Papst ihn um Rat fragt, wie er in die Festung eindringen kann, antwortet Guido (widerwillig, denn eigentlich wollte er mit weltlichen Dingen nichts mehr zu tun haben) mit den in dem Vers genannten Worten, er soll alles versprechen und nichts halten. Bonifaz VIII bietet den Colonna also Lösung des Kirchenbanns und Verzeihung aller "Schuld" an, wenn sie sich ergäben. Daraufhin ergaben sie sich, die Soldateska von Bonifaz VIII dringt in die Festung ein und zerstört sie.

Franziskus kam nach meines Leib Erkalten
Der schwarze Cherub aber blieb im Rechte
Und rief: „ Nur ich darf über diesen schalten“

Der heilige Franziskus bemühte sich um ihn, weil er 1296 zu Ancona in den Orden der Franziskaner eingetreten war. Das nützt aber alles nichts.

Nur wer bereut, dem wird verziehen im Leben
Kann man zugleich bereun und Böses wollen?
Dagegen muss ich Widerspruch erheben

Das ist der Hauptstrang dieses 27. Gesanges, neben diesem finden sich aber noch zahlreiche, sehr zahlreiche, Hinweise auf zeitgeschichtliche Ereignisse, die aber mit diesem Hauptstrang gar nichts mehr zu tun haben.

Ravenna steht,wie es seit alters
Es horstet von Polenta noch der Aar
Der seine Schwingen über Cervia spannt

Das ist etwas unverständlich, bei Gmelin heißt es verständlicher

Ravenna geht es wie seit vielen Jahren
Vom Adler von Polenta wohl behütet
Der Cervia auch bedeckt mit seinen Flügeln

Angespielt wird auf die Familie Polenta, die einen Adler im Wappen trug und in Ravenna seit 1270 regierte. Während der Herrschaft der Familie Polenta wurde auch Cervia das 12 km entfernte deren Herrschaftsbereich einverleibt. Cervia hatte eine gewisse Bedeutung aufgrund des Salzhandels. Guido da Polenta, der in Ravenna bis 1322 regierte, gewährte Dante für eine zeitlang Asyl, als dieser aus Florenz vertrieben worden war. 1321 schickte er Dante in diplomatischer Mission nach Venedig, wo dieser erkrankte und 1322 starb. Vereinzelt findet man, dass Guido da Polenta der Vater von Francesca da Rimini war. Noch erinnerlich? Dass ist die Frau, die mit dem Kotzbrocken Giovanni Malatesta verheiratet wurde, wobei wiederum dessen hübscher Bruder vorgeschoben wurde, sie glaubte also, dass sie den hübschen heiratet und nicht den Kotzbrocken. Der hübsche und Francesca verlieben sich aber, was Dante unstatthaft fand und sie in den fünften Kreis der Hölle setzte, wo sie als zwei ewig von der Luft umhergejagte Fäden durch die Luft wedeln.

Dieser Vers ist sie wohl in der Version von Zossmann wie auch in der Version von Gmelin gleichermaßen unverständlich.

Verruchhios alten Bluthund samt dem neuen
Die dem Montagna schufen schlimmen Lohn
Sieht man wie sonst des bissigen Zahns sich freuen.

Oder ( Gmelin)

Und aus Verrucchio auch die beiden Hunde
Die mit Montagna böse erst verfahren
Bohren die Zähne in die alten Wunden

Angespielt wird auf Ferruchio (ein Schloss in der Nähe von Rimini), Sitz der Malatesta. Zu dieser Familie gehörte auch der oben erwähnte Kotzbrocken, Giovanna Malatesta und sein Bruder, der hübsche oder hübschere Paolo, der Francesca da Rimini vernaschte, weil sie sich nun mal vernaschen ließ. Die Malatesta waren als Schutzherren der Guelfen nach Rimini berufen worden. Bei einem Aufstand der dortigen Bevölkerung gerät ein Führer der Ghibellinen, Montagna de Parcitati in Gefangenschaft und wird
von den Malatesta ermordert. Wir hoffen, dass an diesem Verbrechen nur der Kotzbrocken beteiligt war, aber nicht der hübsche Paolo, sonst müsste er ja noch vom fünften in den achten Kreis umgesetzt werden.

Die Städte am Santemo und Lamon
Regiert der junge Leu aus weißem Neste
Mit jedem Mond tauscht er die Farbe

Was Zossmann zu dieser Übersetzung veranlasst hat, wissen wir nicht. Verständlicher ist die Version von Gmelin.

Die Städte am am Lamone und am Santerno
Die führt der Löwe auf dem weißen Felde
Der oft im Jahre seinen Anhang wechselt

Gemeint sind die Städte Imola am Fluss Santerno und Faenza, am Fluss Lamone gelegen. Beides Flüsse in der Romagna, also in Norditalien, der Lamona entspringt in den Apeninnen und mündet in der Adria. Mit dem Santerno ist das schon schwieriger, der mündet irgendwo in der Pampa, wie man hier sieht, http://it.wikipedia.org/wiki/Santerno. Regiert werden beide Städte von Paganis von Sosesana, dessen Wappen ein blauer Löwe im weißen Feld war. Mit „der oft im Jahre seinen Anhang wechselt“ ist wohl gemeint, dass dieser flexibel im Hinblick auf die Parteizugehörigkeit war, mal Guelfe, mal Ghibelline war, je nachdem was gerade besser passte.

Und die umspült der Savio – wie die Feste
Selbst zwischen Tal und Berge liegt – muss sie schwanken
Ob Tyrannei, ob Freiheit sei das Beste

Gemeint ist die Stadt Cesena. Diese gehört mal der ghibellinischen, mal der guelfischen Partei an. Allerdings lässt sich nicht erschließen, wer von beiden dieser Parteien für Freiheit und welche für Toleranz steht. Da aber die Invektiven gegen das Papstums in der Divina Commedia häufig und, hier können wir aus der Erfahrung der seither verflossenen 700 Jahre schöpfen, absolut berechtigt waren, kann man wohl annehmen, dass Dante den Kaiser als das kleiner Übel ansah.

Damit auch keine Unklarheit darüber besteht, was Dante von den Päpsten hält, wir versenken, da wir schon mal dabei sind, auch den Ratzinger, Joseph im achten Kreis der Höhle, folgt dieser Vers.

Da ließ der Fürst der neuen Pharisäer
Zum Krieg sich reizen nah beim Laterane
Nicht etwa gegen Türken und Hebräer

Nein gegen Christen schwang er seine Fahne!
Nicht einer war bei Acres Sturm gewesen
Nicht einer hat geschachert beim Sultane

Die höchste Pflicht, dazu der Papst erlesen
Hielt er nicht hoch, an mir den Strick nicht minder
Durch den man sonst zur Magerkeit genesen

Die Pharisäer stehen in der biblischen Gestalt für Heuchler, die Äußerlichkeiten über den Kern des Christentum, Nächstenliebe und Gerechtigkeit setzten. Anstatt gegen die Juden und die Sarazenen (Araber, Zossmann übersetzt falsch, es heißt

Lo principe d'i novi Farisei,
avendo guerra presso a Laterano,
e non con Saracin né con Giudei,)

kämpft er gegen die Familie Colonna. (Lateran, also der Teil Roms, wo der offizielle Sitz des Papstes ist, deutet darauf hin, dass die Kämpfe Bonifaz VIII mehr den inneren „Feinden“ des Christentums galt, als den äußeren.)

Die höchste Pflicht, dazu der Papst erlesen
Hielt er nicht hoch, an mir den Strick nicht minder
Durch den man sonst zur Magerkeit genesen

Das ist auch etwas dunkel, klarer wird es bei Gmelin.

Da hat er nicht sein hohes Amt, nicht Weihen
Bei sich bedacht, bei mir nicht jenen Gürtel
Der die Gegürteten einst magerer machte

Will heißen, er hat genaus so wenig auf die Verpflichtungen geachtet, die ihm sein Amt als Kirchenoberhaupt aufgelegt hatte, wie auch auf den Gürtel, den er, Guido trug, also den Gürtel der Franziskaner, der diese hätte zum Fasten anhalten sollen, was er aber, aufgrund der Verlotterung der Sitten, wohl immer öfter nicht mehr getan hat. Als Franziskaner Mönch hatte Guido aber allem weltlichen Streben entsagt, der Papst hätte das respektieren müssen.

Wie Konstantin, der große Überwinder
Silvestern rief, vom Aussatz ihn zu heilen
So rief der Papst mich, um als Listerfinder

Ihm Rat im Herrschsuchtfieber zu erteilen
Ich schwieg und wusste keinen Rat zu sagen
Denn eines Trunkenen schien sein Wort bisweilen

Mit Silvester (gestorben 335 nach Christus in Rom) war Bischof von Rom, ab 314 nach Christus Papst. Er soll den Kaiser Konstantin den Großen vom Aussatz geheilt haben, indem er ihn taufte und bekam dafür das Patromonium Petri, Grundlage des späteren Kirchenstaates, geschenkt. Er starb am 31 Dezember 335, und gab jenem allseits bekannten alljährlichen Neujahrskomma, geprägt durch unfundierte, hormongesteuerter Hoffnung auf Veränderung seinen Namen. Den Vergleich zwischen der Aufforderung des Papstes an Guido ihm einen hinterlistigen Ratschlag zu erteilen und der Heilung Konstantins durch Silvester müssen wir jetzt nicht unbedingt besonders treffend finden.

Das war dann der 27. Gesang. Sollte der Autor ein paar Bösewichter vergessen haben, so möge man ihm verzeihen. Es gibt davon soviele auf der Welt, da können einem schon mal ein paar durch die Lappen gehen.